Zum Artikel Saalhauser Bote Nr. 14, 1/2004
Zurück
Inhalt
Vor
Volkstümlich
„Was singt denn ihr da?“
Lehrer Plitt verfügte nicht nur über ein gutes
musikalisches Gehör sondern auch über eine gute
Beobachtungsgabe, denn Wortklang und Mundstellung verrieten ihm, dass
bei uns aus „es spielet der Hirte auf seiner Schalmei“
ein „es leset der Hirte in seinem Karl May“ wurde.
Wir befanden uns im
Musikunterricht und Lehrer Plitt, der damalige Schulleiter, übte
mit uns den dreistimmigen Frühlingskanon ein, wobei er der
dritten Stimme, die ohnehin immer Hilfe suchend im Raume umherirrte,
mit seiner Geige einen sicheren Halt zu verleihen suchte, bis dann
letztlich doch alles in einem Tonchaos endete.
Das war Lehrer Plitt; einer der
großen, die mich in meiner Saalhauser Schülerlaufbahn
geprägt haben. Er gab ja nie auf, bis es auch der Letzte
begriffen hatte. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals außer
Fassung erlebt zu haben, denn er besaß die natürliche
Autorität, die von seinem Alter und seiner pädagogischen
Erfahrung ausging und auf uns Schüler den gewünschten
Einfluss ausübte.
Er gehörte noch zu jenen
Lehrern, die hin und wieder nach Einbruch der Dunkelheit durch das
Dorf gingen und „verspätete“ Kinder darauf
aufmerksam machten, dass es jetzt aber höchste Zeit würde.
Man mag das heute in unserer so aufgeklärten Zeit sehen wie man
will. Uns Kindern gab es Halt und Orientierung und eine Art sicherer
Geborgenheit in dem Bewusstsein der uns umgebenden Fürsorge.
Sich heute häufende Fälle kindlicher Verwahrlosung wären
damals bei aller Nachkriegsnot undenkbar gewesen.
Unabhängig von all dem
imponierte mir Lehrer Plitt als Dirigent der Saalhauser Musikkapelle,
die er viele Jahre leitete. Jeden Sonntag nach dem Hochamt fand in
der alten Schützenhalle die allwöchentliche Probe statt.
Wir Kinder durften zuhören, wenn wir uns nur ruhig verhielten.
Ich wunderte mich immer wieder, wie die vielen erwachsenen Männer
auf sein Wort hörten und auf jeden Wink reagierten. So
diszipliniert ging es bei allem Respekt bei uns in der Schule doch
nicht zu.
Aber auch hier gab er nicht auf,
bis sich auch unser Frühlingskanon endlich wie ein solcher
anhörte.
Was unsere eigenwillige
Textänderung anging, so hatte er recht gehört: Wir spielten
wirklich als Hirten auf der Flöte oder lasen unseren Karl May.
Zu Hirten machte uns die
Nachkriegszeit, indem wir für den einen oder anderen Bauern im
Dorf die Kühe hüten durften. Das taten wir sehr gerne,
stand doch ein Butterbrot mit dicker, selbstgemachter Butter in
Aussicht. Das war schon sehr wichtig vor allem für Kinder, die
nicht als Einheimische über eigene Nahrungsquellen verfügten,
so jedenfalls erschien es uns damals.
Als ich nach vielen Jahren
einmal mit einer Saalhauserin ( seit langem verstorben ) über
diese Zeit ins Gespräch kam, klagte sie noch nachträglich
darüber, dass sie in der schweren Zeit nicht einmal schlachten
konnten und in Ermangelung anderer Nahrungsmittel gezwungen waren,
wochenlang nur Kuchen zu essen, denn Milch, Mehl und die anderen
notwendigen Zutaten waren in ausreichender Menge vorhanden.
Vorsichtig wechselte ich das Thema.
Auch wenn die Hausaufgaben, die
unter allen Umständen zu erledigen waren und auch erledigt
wurden, einen schwachen Schatten warfen, könnte man die Zeit des
Kühehütens eine Zeit ungetrübter Kinderfreude nennen.
Da war nicht nur das Butterbrot gegen den schlimmsten Hunger, sondern
die gesamten Umstände waren es, die diese Zeit in der Erinnerung
so einprägsam machten. Welches Kind kann heute schon ein ganzes
Tal sein eigen nennen, so wie wir damals zum Beispiel das Böddestal?
Für uns Kinder lag es ziemlich weit draußen und wenn wir
dort mit den Kühen ankamen, waren wir völlig alleine und
niemand störte uns. Einzelne Häuser oder gar ganze
Siedlungen wie heute waren weit und breit nicht zu sehen. Mit dem
heutigen Areal der Firma Peetz begann unser Hütebereich. Wir -
es kamen immer wieder andere Kinder dazu – hatten nur darauf zu
achten, dass die Kühe eine weiter talaufwärts liegende
Grenze zur Nachbarweide nicht überschritten.
Was sind schon Star Trek oder
Play Station gegen Karl May im Böddestal?
Wir mussten nicht für viel
Geld versuchen, per Handy oder Übertragungssatellit an der Welt
teilzuhaben. Wir holten uns die Welt ins Tal und spielten all das und
waren selber all das, was uns heute vorgespielt und als Wirklichkeit
verkauft wird. So fanden wir unbewusst zu den Anfängen
menschlicher Zivilisation zurück, indem wir zu Jägern und
Sammlern wurden und alles jagten und sammelten, was da fleuchte und
kreuchte. Dabei waren wir als Sammler wesentlich erfolgreicher als
wir es als Jäger sein konnten; es ist nun mal einfacher, seltsam
geformte Steine, Beeren, Pilze, Eicheln, Bucheckern etc. zu sammeln
als Schmetterlinge, Eidechsen, Eichhörnchen, Blindschleichen
oder Kaninchen zu jagen. Da halfen uns auch nicht die selbst
gefertigten Pfeile und Bogen, mit denen wir im Laufe der Zeit immer
geschickter umzugehen verstanden. Auch als Fischer versuchten wir
unser Glück, denn im Böddesbach gab es Forellen und wir
versuchten sie mit der Hand zu fangen, was auch hin und wieder
gelang, obgleich es uns sehr viel an Geschicklichkeit abverlangte.
Dass trotz allem nicht immer
alles so reibungslos verlief, zeigte sich, als ich einmal alleine
hinter der Helle unterhalb der Lammers Hütte - ob es sie heute
wohl noch gibt? - Kühe hütete. Es war sehr heiß und
die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel. Ich setzte mich unter die
ersten Bäume am Rande des angrenzenden Fichtenwaldes in den
Schatten. So hatte ich die Tiere im Blick und konnte in aller Ruhe in
Winnetou III seinen Spuren folgen und mit Old Shatterhand seinen Tod
beklagen. Doch den Tieren war es offensichtlich auch zu heiß,
denn es dauerte nicht lange, so folgten sie meinen Spuren. Sie
drangen jedoch in alle Richtungen immer tiefer in den Wald ein. Ich
versuchte sie mit meinem Stock wenigstens zusammen zu halten, was mir
auch nach größter Anstrengung gelang. Sie jedoch wieder
auf die Wiese zurückzutreiben, damit sie ihr Quantum Gras
fressen und am Abend pflichtschuldigst ihre Milch abliefern konnten,
stellte sich als äußerst schwierig heraus. Je heftiger ich
sie aus dem Wald zu treiben versuchte, umso mehr wichen sie mir
wieder nach rechts oder links aus bis sie sich endlich ganz
umdrehten, den Kopf senkten und mir die Hörner zeigten. Diese
Haltung kannte ich. In gegenseitiger Übereinstimmung verfielen
wir für den Rest des Nachmittags in ein trotziges
Stillhalteabkommen bis jemand aus dem Dorf kam, um uns zu suchen,
denn man hatte uns bereits vermisst. Wenn ich mich recht erinnere,
fiel auch die Milchausbeute an diesem Abend recht bescheiden aus.
Diese Geschichte erzählte
ich meiner Frau, als wir viele Jahre später von Gleierbrück
aus hinter die Helle wollten. Ich beabsichtigte, ihr diese Wiese zu
zeigen und war zugleich neugierig, ob es sie überhaupt noch gab.
Am Tretbecken machten wir an einem der dort befindlichen Tische erst
einmal Frühstückspause. Wir hatten noch nicht ganz unser
Frühstück ausgepackt, als wir plötzlich hinter uns
wilden Hufschlag hörten. In vollem Galopp näherten sich uns
zwei Pferde, die im letzten Moment direkt neben uns zum Stehen kamen,
um mit langem Hals an unserem Frühstück teilzunehmen.
Wir teilten mit ihnen und
machten uns wieder auf den Weg. Wie selbstverständlich schlossen
sich uns die beiden an bis zu der tatsächlich noch vorhandenen
Wiese. Hier blieben sie plötzlich stehen. Wir versuchten sie
durch gutes Zureden anzutreiben, um uns ins Dorf zu begleiten, denn
irgendeinen Besitzer musste es ja geben. Doch alles Zureden half
nichts, sie blieben stur stehen. Das kannte ich doch. Es fehlte nur
noch, dass sie uns die Hörner zeigten. Als wir uns amüsiert
weiter um sie bemühten, drehten sie plötzlich ab und stoben
in wildem Galopp den Weg zurück Richtung Gleierbrück. Kann
es sein, dass es bei den Tieren Ahnungen gibt, die nur sie
wahrnehmen?
Im Dorf angekommen, besuchten
wir Trillings Herbert. Er erzählte uns umgehend, dass im Dorf
zwei Pferde ausgebüxt seien. Als wir ihm erklärten, dass
wir eben noch mit zwei herrenlosen Pferden gemeinsam gefrühstückt
hätten, glaubte er uns wohl nicht so recht, denn er schaute uns
so seltsam an. Aus diesem Grunde hier noch nachträglich ein
Beweisfoto.
Zurück zum Frühlingskanon.
Auch das dort erwähnte Schalmei- bzw. Flötenspiel geschah
tatsächlich. Neben der großen Musikkapelle besaß
Saalhausen auch einen Spielmannszug, volkstümlich eine
Knüppelmusik. Nachwuchs wurde immer gesucht und so war es Wiesen
Josef ein Leichtes, mich als Mitglied zu gewinnen. Doch vorher galt
es, an eine Flöte zu kommen und diese zu erlernen. Die Flöte
wurde mir gestellt und das Spielen brachte mir Wiesen Josef bei.
Dazu gingen wir in den Wald, wo uns nicht jeder hörte. Josef
zeigte mir die Griffe und spielte die Töne vor und ich ahmte
beides nach bis aus einzelnen Tönen Melodien entstanden. Josef
erwies sich als ein so guter Lehrmeister, dass ich bereits beim
nächsten Schützenfest meinen ersten Einmarsch in die alte
Schützenhalle miterleben durfte. Es sollten noch viele
Veranstaltungen und Umzüge in Saalhausen und in der näheren
und ferneren Umgebung folgen. Besonders spannend gestalteten sich die
Knüppelmusik-Wettbewerbe, bei denen an immer wechselnden Orten
unter mehreren Spielmannszügen der beste ermittelt wurde. Alle
bewunderten unseren Tambourmajor, der trotz seines Holzbeines
aufrecht und in untadeliger Haltung vor seinen Mannen stand und
energisch mit seinem Majorsstab die notwendigen Zeichen gab. Da wir
sehr oft den ersten Platz belegten, regte sich später in mir der
Verdacht, dass bei der Bewertung ein gewisser Holzbeinbonus kräftig
mitgespielt haben muss.
Neben der großen
Musikkapelle besaß Saalhausen auch einen Spielmannszug,
volkstümlich eine Knüppelmusik
Im Frühling vor zwei Jahren,
wieder einmal blühte es an allen Orten, besuchte ich an einem
Sonntag mit meiner Frau das Hochamt in der Pfarrkirche. Aus gegebenem
Anlass wurde der Gottesdienst von einer Bläsergruppe musikalisch
gestaltet. Es hörte sich sehr gekonnt an und ein Spiritual ließ
auf jugendliche Musikanten schließen. Nach dem Hochamt, beim
Begrüßungstreffen mit den Freunden vor der Kirche, sprach
ich zwei der jungen Musikanten an, um von ihnen zu erfahren, ob sie
ihre Kenntnisse in einer Musikschule erworben hätten und wo und
wie sie probten. Darauf erklärten sie mir mit verhaltenem Stolz,
sie brächten sich alles selbst bei und proben würden sie
mal hier, mal dort, am liebsten aber im Wald, denn dort störten
sie am wenigsten. Alle Achtung. Bei solch einer Einstellung dürfte
Pisa kaum eine Chance haben. Irgendwie froh folgte ich den Freunden
zum Frühschoppen beim Theo.
Zurück
Inhalt
Vor
|