Frau Helga Rameil gab uns diese Aufzeichnungen von Frau Lisa Figge (†). Sie war die Schwester der Mutter von Heinz und Emil Rameil. In den folgenden Saalhauser Boten werden wir diese Aufzeichnungen in Teilabschnitten veröffentlichen. Den Aufzeichnungen ist der kursiv geschriebene Teil vorangestellt:
In den Monaten April bis Juli 1946, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, schrieb die vor der anrückenden Front aus Trier nach Altenhundem geflüchtete Lehrerin Lisa Figge, eine gebürtige Altenhunde- merin, auf, was sie an den für sie schlimmsten Kriegstagen von Februar bis April 1945 in Altenhundem und in Gleierbrück - Totenohl erlebt hatte. Ihren Aufzeichnungen hat sie den Vermerk vorangestellt: „Meinen Neffen Hennes und Werner Wiethoff zur Erinnerung an die schwere Zeit des Krieges, wie wir ihn im Jahre 1945 in unserem stillen Sauerland erlebten.” Bis auf zwei Stellen, an denen unwichtige Bemerkungen weggelassen sind, geben wir die Niederschrift ungekürzt wieder.
Hier nun die Aufzeichnungen Teil 1:
Ein Jahr ist vergangen seit der Zeit, da auch unser stilles Sauerland das Kriegsgeschehen mit seinen Nöten und Sorgen beunruhigte und verwandelte. Andere Sorgen, andere Nöte sind gekommen in seinem Gefolge. Für manche nicht weniger hart und einschneidend als das Geschehen selbst, Sorgen ums tägliche Brot und um Arbeit, Sorgen um viele noch nicht heimgekehrte Soldaten, Sorgen um die, die das politische Geschehen seit nun fast einem Jahre ihrer Familie entführte. -
Nur draußen in der Natur atmet alles wieder Ruhe und Frieden; alles darf wachsen, um wieder blühen und reifen zu können. Der Mensch darf schaffen und pflanzen, ohne fürchten zu müssen, dass Menschenhand im Kriegstrubel die Friedensarbeit langer Wochen, mancher Jahre in Augenblicken wieder zerstört. Und diese Arbeiten mit Hoffnung auf Bestehen und Fruchtbringen lässt den Blick in die Zukunft trotz banger Sorgen wieder etwas leichter werden. Friedensarbeit bleibt immer Aufbauarbeit, Kriegshandwerk zerstört . . .
Unser kleines Schicksal ist eingesponnen ins Leben des Volkes, ins Leben der Welt. Wir können ihm nicht entrinnen - und doch ist es an uns, es möglichst gut und fruchtbar zu gestalten. Dieses Handeln wollen und Erleiden müssen im Leben zum rechten Einklang zu bringen, ist höchste und schwerste Lebenskunst. Das letzte Kriegsjahr und das ihm folgende hat beides in hohem Maße von uns gefordert.
Ihr, Hennes und Werner, habt all das schwere Geschehen miterlebt, wie kleine Kinder es erleben. Viel Freude habt Ihr uns bei allem gebracht, manche Sorge wurde um Euretwillen ausgestanden. Bei Euch wird das Erleben wie das meiste Geschehen der ersten Lebensjahre schwinden oder zu einem unwirklichen Schemen abblassen; denn Ihr wachst wieder hinein in eine Friedenszeit mit ihren Aufgaben und ihren Kämpfen - so hoffen wir es -, doch das auch Ihr von unserer schweren Zeit noch später wisst, dazu mag dieser kurze Bericht ein weniges beitragen.
Euer Vater hat in dieser Zeit um seinen und Euren Besitz gekämpft, oft bis zum Rande seiner Kräfte, er hat helfend und zugreifend in seinem und Eurem Heimatort Altenhundem ausgeharrt und Eure Mutter, die in jenen schweren Monaten klein Marlies unter ihrem Herzen wachsen fühlte, hat Euch umsorgt, damit Ihr gesund und froh die Wochen überstandet. Ich selbst, ich durfte die Zeit in Altenhundem und Totenohl mit Euch allen erleben, und darum will ich dankbar sein.
Mein Leben in Trier, wo die Pflicht in der Schule mich bis zu den ersten Augusttagen 1944 festhielt, war - als die Schulen wegen der kaum noch abreißenden Luftgefahr geschlossen wurden - leer und inhaltslos geworden.
An einen sinnvollen Einsatz des einzelnen - wie gern hätten wir alle eine Aufgabe und eine Pflicht erfüllt - war nicht mehr zu denken.
Der Durchbruch durch die Atlantikfront, das mehr als schnelle in Besitznehmen unserer westlichen Nachbarländer durch Amerikaner und Engländer und damit das Kommen der Front bis dicht vor die Tore Triers machten mich frei für die Heimat, in der ich alles weitere mit den Meinen erlebte. Wie wir es erlebten, will Euch dieser Bericht schildern.
Als ich Mitte September 1944 nach Altenhundem kam, war Schwager Karl Wiethoff zum dreiwöchigen Einsatz am Westwall in der Aachener Gegend. Bei dem so plötzlichen Näherrücken der Front von Westen her auf unsere Landesgrenzen zu wurden plötzlich die in der Heimat verbliebenen Männer zum großen Teil zur Westgrenze transportiert, um dort Gräben zu schaufeln und Stellungen zu bauen.
Diese gewaltsame und plötzliche Aktion die die Partei (NSDAP) anscheinend noch zur Rettung des Vaterlandes durchzuführen versuchte, zeigte allen Beteiligten klar, dass an ein Aufhalten des Feindes auf die Dauer nicht mehr zu denken war; sie machte sie nur bekannt mit den Schrecken des Krieges, im besonderen mit dem des Luftkrieges, der ein Gebiet für das Nachrücken der Front erst vorbereitete. Wir freuten uns von Herzen, als nach der veranschlagten Zeit Schwager Karl tatsächlich wieder zu uns zurückkehrte.
Damals verlief das Leben im Sauerlande noch gut und ruhig, gemessen an dem Leben, das jenseits des Rheines und in unseren Großstädten geführt wurde. Der Strom der Flüchtlinge vom Westen und der Evakuierten aus den Ruhrstädten in unser heiles Sauerland wurde immer größer; denn die Bombenangriffe auf die Städte wurden immer schwerer und vernichtender. Etwa 8 Tage nach dem schwersten Angriff auf Dortmund wurde am 4. November 1944 der noch bestehende Teil von Bochum buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht, und Tante Hedwig Schmelzer zog mit einem Teil der ihr verbliebenen Habe nach Totenohl zu Onkel Hugo und Tante Threschen Rameil. Onkel Bernhard musste - um seinen Dienst an der Post weiter zu versehen - wieder nach Bochum zurück, wo er bis kurz vor Ostern 1945 durchhielt.
Langsam kündigte sich aber auch bei uns der Krieg immer mehr an. Zwei Bomben, die von einem einzelnen Flieger auf den Bahnhof geworfen wurden und die Unterführung zu den Bahnsteigen beschädigten, waren der Auftakt und ließen ahnen, dass es auch in Altenhundem ernst werden könnte.
Ab Dezember wurde das Fahren mit der Eisenbahn auch in unserer Gegend gefährlicher, weil stets mit Angriffen aus der Luft auf die Züge gerechnet werden musste. Auch trat bei vielen Angriffen immer deutlicher hervor, dass Eisenbahnknotenpunkte ein gesuchtes Ziel für Bomber waren. Nachdem um die Weihnachtszeit Hagen mehrfach schwer angegriffen wurde, dann im Januar 1945 Meschede folgte, wurde man auch in Altenhundem nervöser. War man bisher bei Fliegeralarm sorglos und ruhig geblieben, so wurde man jetzt doch vorsichtig und suchte bei Überfliegen die Keller auf. Als dann tatsächlich einige Zugbeschießungen in naher Umgebung - die schwerste war bei (im Manuskript keine Namensangabe), sie forderte mehrere Tote und eine Reihe Verletzter - stattfanden und die Bomberüberflüge stets bedrohlicher wurden, flüchteten bei Alarm doch manche Leute in die Wälder.
Am 22. Februar 1945, mittags kurz nach zwei Uhr, kam dann auch plötzlich der erste Bombenangriff für Altenhundem. Eine Gruppe zweimotoriger Bomber kam wie häufig, doch das plötzliche Anderswerden des Flugzeuggeräusches mahnte zu besonderer Vorsicht.
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