Frau Helga Rameil gab uns diese Aufzeichnungen von Frau Lisa Figge (†). Sie war die Schwester der Mutter von Heinz und Emil Rameil.
Herr Günter Becker aus Altenhundem wies uns darauf hin, dass dieser Artikel bereits einmal in den Heimatstimmen des Kreises Olpe, Folge 139 (1985) erschienen ist.
Fortsetzung
In den späten Nachmittagsstunden des 14. März traf das Dorf selbst ein weiterer Angriff. So schwer wie die beiden ersten war er nicht, doch richtete er manchen Schaden an, wenn auch Menschenleben diesmal nicht zu beklagen waren. Es wurden diesmal nur kleinere Bomben geworfen, allerdings zeigten sie eine große Spreng- und Splitterwirkung. Die am weitesten ins eigentliche Dorf gedrungene Bombe richtete Zerstörungen am neuen Bertelmannschen Hause an und machte es unbewohnbar. Die weiteren Bomben lagen nach Kirchhundem zu und brachten Schäden für mehrere Häuser der weiteren Bahnhofs- und Kampstraße. - Das Bahngelände zeigte inzwischen in der näheren Umgebung des Bahnhofs auch zahllose Schäden. Zu den wenigen Zügen, die noch nach Fredeburg fuhren, stieg man nicht mehr im Bahnhof, sondern an der Überführung über die Meggener Straße ein.
Was diese Tage in der Mitte des März noch so besonders schwer und trostlos gestaltete, war neben der dauernden Luftgefahr die Masse der Fremdarbeiter, die in den mehrwestlich gelegenen Teilen unseres Vaterlandes entlassen, sich gen Osten wälzte. Zu Millionen waren diese Menschen, teils als Kriegsgefangene, mehr noch als Zivilarbeiter, nach Deutschland gebracht worden, um durch ihre Arbeit die arbeitende Kriegsmaschine auf Hochtouren zu halten.
Nun da das Ende nahte, die Verwirrung stieg, hatte man sie einfach in Marsch gesetzt. Tagelang zog das graue Elend vorbei, entlassen, ohne Verpflegung, ohne Ziel. Fast atmete man auf, wenn einmal eine Gruppe französischer Arbeiter vorüberzog, fühlte man doch bei ihnen instinktiv den Lebenswillen. Sie schlugen sich durch, nutzten die Bäche, um sich zu waschen und frisch zu machen, das schöne sonnige Wetter, um sich zu lagern. Sie wussten sich noch auf irgendeine Weise Nahrung zu verschaffen und zündeten Feuerchen an, um zu kochen. Bei ihnen fühlte man, sie jonglierten über eine Krise hinüber, die doch keine Dauer haben konnte.
Ganz anders wirkte die unendliche Masse der Russen, die weitaus den größten Teil dieser Wandernden ausmachten. Sie tropften vorbei, müde, hoffnungslos, in ihre unschönen und schmutzigen Röcke gehüllt und ohne jede Initiative mit stumpfem Gesichtsausdruck. Ihr Anblick drückte unendlich nieder.
Am 22. März in den Morgenstunden fielen über Altenhundem noch einige Brandkanister. Sie machten die Umgebung unseres Hauses noch trümmerreicher. Der eine entzündete das Kleffmannsche Haus am Marktplatz, das bis auf die Grundmauern abbrannte. Der zweite setzte das Wiethoffsche Haus im Schlamm in Brand. Dass letzteres nicht ebenso restlos zerstört wurde, ist allein der Initiative von Karl Wiethoff zu verdanken. Er beobachtete die Entstehung des Brandes aus dem Wigeu, wohin er sich beim Kommen der Flugzeuge in Sicherheit gebracht hatte. Gleich nachdem er die Gefahr für sein elterliches Haus erkannt hatte, begann er mit der Löscharbeit. Mit größter Zähigkeit, in Qualm und Rauch arbeitend, nur mit Wassereimer und Schöpflöffel bewaffnet, vernichtete er die auf dem Dachboden entstehenden kleinsten Brände, so dass das Feuer sich nicht ausdehnen konnte. Der Saal hatte bei diesem Brand am ärgsten gelitten. Sein Dach war verschwunden, und die obere Hälfte der Mauern stand nur noch in Bruchstücken.
Die Fliegertätigkeit steigerte sich in den nächsten Tagen noch immer mehr. Der Morgenzug, der noch nach Fredeburg fuhr, wurde unterhalb Hundesossen an zwei verschiedenen Morgen schwer beschossen und mit Bomben belegt. Ein langer Lazarettzug wurde zwischen Gleierbrück und Saalhausen gegen 10 Uhr morgens unter Feuer genommen. Eine vierstündige Beschießung der im Gleietal untergestellten Wehrmachtwagen und des zwei Tage vorher dort gelagerten Bauzugs brachte neue Unruhe und Aufregung.
Zu ganz bestimmten Tagesstunden überflogen Aufklärungsflieger, der „Unteroffizier vom Dienst”, wie wir ihn nannten, die Gegend.
Alles dieses wies darauf hin, dass die Front uns näher rückte. Seit am 9. März bei Remagen durch die Alliierten der Rhein überschritten war und sich die Amerikaner schnell über den Westerwald ins Lahn- und Siegtal vorarbeiteten, war allen klargeworden, dass sich auch über unser stilles Bergland die Kriegsmaschine wälzen würde. Die oben erwähnten Beschießungen waren ihre Vorboten. In der Karwoche wurde es auch auf den Straßen recht lebendig. Viel deutsches Militär zog gen Osten und wurde auch bald in den Dörfern stationiert.
Die Lage hatte sich für uns mittlerweile klar abgezeichnet. Während an der Sieg noch hartnäckig gekämpft wurde, hatten die Amerikaner, aus dem Lahntal vordringend, unser Bergland umschlossen. Wir lebten also mit in einem großen Kessel, der bis Winterberg am längsten offenblieb. Die Front musste also vom Osten über unsere Berge kommen. Die Unruhe und Geschäftigkeit jener Tage schildern zu wollen, wäre von vorneherein ein müßiges Beginnen.
Osterdienstag wanderte ich noch von Gleierbrück nach Kirchhundem, um dort eine Geldangelegenheit zu erledigen. Mein Rückweg von Altenhundem am Nachmittag wurde durch Fliegertätigkeit so gestört, dass ich fünf- bis sechsmal Deckung aufsuchen musste. Wehrmachtsfahrzeuge überholten mich dauernd, und die schweren Tigerpanzer ließen mich sogar von der Straße gehen, der von ihnen verursachte Lärm machte nervös.
In Gleierbrück bei Rameils hatte sich die Feldgendarmerie einlogiert, und täglich und nächtlich kam durchziehende Einquartierung hinzu. In dieser Woche litt es Karl Wiethoff auch nicht mehr immer allein in Altenhundem. Abends kam er mit dem Fahrrad zu seiner Familie nach Totenohl und fuhr morgens wieder nach Altenhundem zurück, um dort nach dem Rechten zu sehen.
Freitag nach Ostern, am Spätnachmittage zog dann plötzlich die Gendarmerie ab, die Unruhe der Tage vorher ließ nach, und Stille trat ein. Die Front war nachgerückt. An diesem Abend kam auch Schwager Karl nicht mehr. Bei seinem Versuch, diesmal über das Steinerne Kreuz Gleierbrück aufzusuchen, war er in die Nähe von feindlichen Truppen geraten, doch konnte er mit seinem Kameraden Hubert Schneider noch rechtzeitig den Rückzug antreten. Die nächsten Tage und Nächte verlebte er mit Schneiders in einer kleinen Waldhütte in der Emsecke, die sie sich für diese Gelegenheit errichtet hatten.
Am Freitagabend gegen 11.30 Uhr setzte dann ein reges Artilleriefeuer ein, so dass wir die Keller aufsuchten, wo wir die Nacht verbrachten. Samstag und Sonntagmorgen trat eine längere Pause im Beschuss ein, so dass wir oben sein, unsere Arbeit tun und kochen konnten. Bei einsetzendem Beschuss wurde dann wieder der Keller aufgesucht. Tagsüber hörte man viel Maschinengewehrfeuer, sah auch oben im Dorf einzelne Soldaten mit Maschinengewehren über die Straße springen und hinter den Bäumen Deckung suchen. Ein Meldegänger ging einmal nach Langenei. Junge Soldaten einer Strafkompanie bauten oberhalb des Dorfes noch an Panzersperren.
Das war das ganze Leben, das sich draußen zeigte. Die Front kam auf ganz leisen Sohlen. Während des Samstags war auf dem sanft zum Rennacken aufsteigenden Gelände hinter dem Langeneier Hammer ein deutsches Geschütz nach Saalhausen gerichtet in Stellung gebracht worden. Wir lagen jetzt direkt in der Feuerlinie. Wegen der damit verbundenen Brandgefahr einerseits und andererseits, um im Keller mehr Raum für die 13 Menschen zu schaffen, brachten wir am Sonntagmorgen während des Nebels die Garderobe und den größten Teil der im Keller gestapelten Sachen in die nassen Keller unter dem Fischereigebäude.
Diese Vorsicht und Sorge für mehr Bequemlichkeit mussten wir nachher teuer bezahlen; denn die meisten der Sachen wurden angesteckt und verbrannten am Tage nach dem Kommen der Amerikaner. Im Keller konnten nun für vier Mann Strohlager hergerichtet werden, für Hennes und Werner wurde sogar das von Altenhundem mitgebrachte Kinderbett aufgestellt, beide haben in ihm die nächste Nacht und den noch folgenden Tag verbracht.
Während am Sonntag die Granaten vielfach ganz in der Nähe krachten, ging am Abend nach dem Dunkelwerden ein fürchterliches Trommelfeuer über uns weg. Wie wir später erfuhren, war Altenhundem am Abend einnahmereif geschossen worden, nachdem ein paar Stunden vorher auch noch die letzten Bomben gefallen waren, die die Nebengebäude der Mühle stark in Mitleidenschaft gezogen hatten.
Vom Trommelfeuer, das wieder ins Innendorf gerichtet gewesen war. zeigte das Wiethoffsche Anwesen allein 11 Granateinschläge, 5 davon waren Volltreffer im Haus. Zwei waren durchs Fenster in den Keller gelangt und dort explodiert. Sie hatten den kleinen Raum hinter der Küche zum Einsturz gebracht. Der schwere Treffer hatte zwei Eichenbalken in drei Wänden durchschlagen und hatte im Hausflur und den anliegenden Zimmern sehr schweren Schaden angerichtet. Das in einem Raum an der Wand zum Hausflur stehende Klavier lag in Tausenden von Stückchen zerstreut. Wände und die Decken zum ersten Stock waren eingestürzt. Das so sorglich gehütete Haus hatte jetzt seine schwersten Schäden davongetragen.
Nach einer unruhigen Nacht folgte ein ebenso unruhiger Montag. Morgens hatten wir gerade so viel Zeit, das Vieh fertigzumachen und die notwendigsten Arbeiten in der Küche zu verrichten. Wir rechneten damit, auch den Tag im Keller zubringen zu müssen. Tatsächlich war auch das Feuer den ganzen Tag über so stark, dass man sich nur mit größter Vorsicht und Eile nach oben wagte, um etwas Notwendiges zu holen. Allmählich ging das Geschützfeuer in das von Maschinengewehren über, dem gegen 4 Uhr nachmittags lautlose Stille folgte. Vorsichtig kroch ich nach oben, Schwager Bernhard Schmelzer folgte. All die Berge der Gleie dampften vom Beschuss. Um mich von dieser Spannung im Keller etwas zu erholen, begann ich mit dem Spülen des gebrauchten Geschirres. Als es dann bald heftig an der Hintertür klopfte, unterbrach ich meine Tätigkeit nicht, in der Annahme, dass die Männer vom Hammer die Gefechtspause wie am Vortage benutzten, um Milch für ihre Kinder zu holen. Trotz allen Wissens und Wartens vorher dachte niemand von uns an das so schnelle und leise Kommen der Amerikaner. Umso bestürzter war ich, als ich mich beim endlichen Umschauen drei „Amis” mit Gewehr im Anschlag gegenübersah. Alle mussten nun aus dem Keller kommen. Nachdem Schwager Hugo Rameil mit einem Amerikaner einen kurzen Gang durchs Haus gemacht hatte, um die Jagdgewehre abzuliefern, wurden wir für zwei Stunden in den Bunker geschickt, in dem sich während dieser Tage die Familien vom Hammer aufhielten. Als wir nach etwa zwei Stunden zurückkehren durften, fanden wir das Haus im unordentlichsten Zustand vor. Alles war durchsucht worden.
Nach Verhandlungen mit einem dolmetschenden Amerikaner, blieben die Küche, das dahinter gelegene Milchkämmerchen und die Wohnstube, falls sie nicht von Soldaten verlangt wurde, für uns. Alles andere war von den Amerikanern belegt.
Der nächste Morgen gab uns einen kleinen Begriff davon, mit welcher Heeresmacht der Amerikaner über den Ozean gekommen war.
Stundenlang zog Infanterie in der ihr eigenen Marschaufteilung über die Straßen und alle Nebenwege (wie Gleie und der Weg zur Stöppel).
Mit stiller Wehmut dachte man der letzten Tage vorher. An ihnen hatte man nicht mehr als eine Handvoll deutscher Soldaten gesehen, die dieser riesigen Kriegsmaschine noch Widerstand zu bieten wagten. Wehmut, Bewunderung für sie und tiefste Entrüstung für jene, die dieses so sinnlos gewordene Kämpfen und Opfern noch gefördert hatten.
Am gleichen Abend, dem 9. April, erreichten die ersten Amerikaner, von Kirchhundem über die Töte kommend, auch Altenhundem. Die durchs Lennetal vordringenden kamen erst dienstags nach dort. Mittwochnachmittag erreichte uns in Totenohl die erste Nachricht von Altenhundem. Donnerstag früh machten wir, Schwester Magda und ich, uns auf den Weg heim. Ein gewisses Aufatmen, verbunden mit großer Unsicherheit vor dem nun Kommenden, war bei allen zu spüren.
Das Haus Lennestraße 4 sah aus, als ob es zum dritten Mal einen kleinen Bombenangriff mitgemacht hätte. Erschüttert waren wir, als wir Schwager Karl wiedersahen und von seinen Sorgen und Nöten des Vortages hörten.
Den in Altenhundem an der Bahn und den in Meggen arbeitenden Fremdarbeitern - vorwiegend Russen und Polen - war gestattet worden, die Geschäfte zu plündern. Wie Ungeziefer hatten diese Massen das Innendorf überschwemmt, überall eindringend, wählend und mitnehmend, was ihnen begehrenswert schien. Gegen sie hatte Karl im Haus Lennestraße 4 und seinem Elternhaus allein gestanden und versucht, zu retten, was eben zu retten war. Durch allerschärfste Anspannung und raschestes Zugreifen aller und schließliche Hilfe der Nachbarschaft hatte er das meiste in Sicherheit bringen können.
Anzüge, Mäntel lagen unterm Holz und Koks, Schuhe hinter der Badewanne, ein kleiner Rollschinken unter der Couch, der gesamte Inhalt eines Koffers seines Berliner Bruders fand sich in wüstem Durcheinander hinter einer zweiten Couch wieder usw. - Es gab viele Überraschungen ähnlicher Art noch beim Aufräumen und Putzen.
Während der nächsten Wochen und Monate blieben die Ausländer (Polen und Russen), abgesehen von den Franzosen, die sich gut hielten und schnellstens in ihre Heimat zurückkehrten, und den Serben, von denen Übergriffe nicht bekannt wurden, eine wahre Plage für die Straßen und das stille Land. Fahrräder, Uhren waren die an erster Stelle begehrten und geraubten Sachen.
Abseits liegende Bauernhöfe und -dörfer lebten den ganzen Sommer über in steter Angst und Not, überfallen und ausgeplündert zu werden, solche Besuche waren nicht selten.
Aufatmen konnte das Land erst wieder etwas, als der größte Teil dieser Fremdarbeiter im folgenden Herbst wieder in ihre Heimat transportiert wurde.
Die Redaktion des Saalhauser Boten dankt der Stadt Lennestadt für die Sondergenehmigung zum Abdruck der einzigartigen Fotos aus dem Stadtarchiv der Stadt Lennestadt im Saalhauser Boten.
Wer wäre bereit aus seiner Sicht das Ende des Krieges zu schildern, das er in Saalhausen erlebt hat?