Saalhauser Bote Nr. 15, 2/2004
Kindheitserinnerungen und mehr...
- von Friedrich Bischoff -
O Tannenbaum, o Tannenbaum, du trägst ein` grünen Zweig, den Winter, den Sommer, das dauert die liebe Zeit.
„Warum sollt ich nicht grünen, da ich noch grünen kann?
Ich hab nicht Mutter noch Vater, der mich versorgen kann.
Und der mich kann versorgen, das ist der liebe Gott,
der lässt mich wachsen und grünen, drum bin ich schlank und groß.“
Aus Westfalen
“Haben Sie Internet?“
Es war wieder einmal so weit. Wir schreiben Dezember 2003. Ich hatte eben die Universitätsstraße überquert, um bei Plus einige Kleinigkeiten einzukaufen, als ich ihn mit seinem Stand direkt vor dem Geschäft inmitten seiner Weihnachtsbäume stehen sah. Der junge Mann gehörte zur Firma Schmidt aus Langenei und versorgte uns alljährlich mit "heimatlichen" Weihnachtsbäumen. Früher sorgte dafür Schmelters Willi, von unseren Kindern scherzhaft Willi Weihnachtsbaum genannt.
Nun stand er vor mir und schaute mich fragend an. Als ich seine Frage nach dem Internet bejahte, erklärte er mir, ich solle doch einmal unter www.saalhausen.de nachschauen, er habe dort etwas von mir über Weihnachten im Saalhauser Boten gelesen.
Jetzt aber wollte er Verschiedenes von mir wissen und meinte, damals sei es doch sicher nicht so einfach gewesen und man habe doch auch nicht so einen Rummel wie heute um Weihnachten gemacht.
Er erreichte damit, dass ich mich bereits auf dem kurzen Heimweg – natürlich mit einem Weihnachtsbaum bepackt – in die Anfangsjahre in Saalhausen zurück versetzt sah.
Ich sah wieder den kleinen Jungen von damals, als den ich mich heute sehe und seine ersten fest in seinem Bewusstsein verhafteten Erinnerungen an die Weihnachtszeit und die damit verbundenen Umstände und Ereignisse während und nach dem Krieg.
Zunächst aber, wohl ausgelöst durch den Baum, der ordentlich drückte und zwickte, führte mich die Erinnerung zurück in die nähere Vergangenheit, nämlich in die Aula der Hochschule Essen.
Dort erarbeiteten wir unter der Leitung des von mir sehr geschätzten Professors Kohnle einen vierstimmig gemischten Satz des Liedes „O Tannenbaum...“ zu Unterrichtszwecken. Professor Kohnle verwies darauf, dass es sich bei diesem Lied neben den zahlreichen kirchlichen und den vielen weltlichen Weihnachtsliedern um das einzige westfälische Weihnachtslied handle, das seinen Eingang in die Musikliteratur gefunden habe. Das Besondere sei die Stimmung, die das Lied widerspiegle, eine Stimmung, die so sehr dem Wesen des westfälischen Menschen und westfälischer Lebensart entspreche: aufrecht, ernst, schicksalsbewusst und voller Gottvertrauen. Eine Charakterisierung, die man so immer wieder auch in den Schriften von Josefa Berens finden kann.
Augenblicklich war ich wieder der kleine Junge – damals in Saalhausen. Und wie sich der Baum im Lied behaupten muss so erging es uns – damals, während und nach dem Krieg und auch später.
Ich fühlte den Stolz des Baumes, jetzt, hier, und so im Hochschulchor zu stehen und mehr noch, diesen wiederholt in Vertretung von Professor Kohnle selber leiten zu dürfen.
Was war das für eine Zeit, die uns Menschen dennoch „wachsen und grünen“ ließ.
Vielleicht liegt die Antwort in dem "dennoch", denn was wir im Übermaß erfuhren und was zunächst unseren Alltag beherrschte, waren Not und Armut.
Auch die heute in der politischen Diskussion so häufig benutzten Begriffe wie Asyl, Asylanten, Migration etc. waren uns sämtlich unbekannt. Doch ihre Inhalte lernten wir sehr wirkungsvoll und nachhaltig am eigenen Leibe kennen, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.
Kein Kind ist verantwortlich für die Welt, in die es hinein geboren wird. Andererseits aber prägt ebendiese Welt jedes neue Kind und ist verantwortlich für dessen Entwicklung und Zukunft. Das Kind wiederum sieht sich gefordert, diese sich ihm darbietende Welt zu erfahren und zu begreifen. Dabei mag jedes Kind seinen eigenen Weg finden.
Ob der kleine Junge von damals in vollem Umfang begriff, dass er durch Krieg und Evakuierung seine kleine Welt und somit seine Heimat verloren hatte und sich nun in der Fremde befand, ist nicht mehr nachzuempfinden.
Sicher ist, dass nunmehr Saalhausen seine neue Welt wurde, die es zu erfahren galt, eine Welt mit altem und neuem Elend, aber auch mit vielen neuen, nur dem Dorfe eigenen Möglichkeiten und Chancen.
Wie der Baum im Lied, so begann auch er allmählich Wurzeln zu schlagen: erst ganz feine, zarte, dann aber kräftige und späteren Belastungen widerstehende Wurzeln.
Dabei sagt mir die Erinnerung, dass es alles andere als widerstandsfähig begann. So schlachtete im Herbst 1943 in Vorbereitung auf den ersten Winter, den ich in Saalhausen erlebte, Steinhanses Kaspar, der wie wir gemeinsam mit seiner Frau auf Heers Scheune wohnte, ein Schwein. Alle Vorbereitungen wurden von mir mit banger Neugier verfolgt, auch das Töten des Schweins.
Beim Auffangen des Blutes erklärte man mir, dass das Blut fleißig gerührt werden muss, damit es nicht gerinnt. Mein Blick wurde immer stärker und stärker von dem roten Wirbel angezogen, der sich durch das eifrige Rühren in der Schüssel bildete, bis dieser immer unwirklicher und nebulöser wurde und mich irgendwann vollkommen aufsog...! Später, als ich im Hause auf einem Bett liegend aufwachte, meinte man, es sei doch am Anfang noch etwas viel gewesen für den kleinen Jungen.
Diese kleine Anekdote zeigt, dass auch mich die neue Welt allmählich in sich aufnahm und die neuen Alltagserfahrungen den Eindruck des Fremden, Unbekannten zunehmend entschärften und Vergangenes in den Hintergrund treten ließ.
Dass bei der Eroberung der neuen Welt die Gedanken und Phantasien von Kindern manchmal seltsame Wege gehen können, das erfuhr ich ebenso wie alle anderen Kinder.
Wie ich anfangs wiederholt zu hören bekam - ohne die vielfach dahinter stehende Wertung zu verstehen - wohnten wir in den ersten Jahren auf Heers Scheune.
Da eine Scheune aber - wie ich lernte - zu den Ställen gehört, wohnten wir gemäß kindlicher Logik in einem Stall. Und da, wie gesagt, kindliche Logik und kindliche Einfalt oft die seltsamsten Wege gehen, war es für mich vollständig in Ordnung, in einem Stall zu wohnen. Mehr noch, das war etwas ganz Besonderes, denn gerade vor Weihnachten wurde mir deutlich, dass ja auch das Jesuskind in einem Stall wohnte und sogar in einem Stall geboren wurde.
Richtig ist jedenfalls, dass diese Gedanken in dieser meiner neuen Welt geweckt wurden und sich im Laufe der Jahre zu einem starken Interesse an der noch größeren und faszinierenderen Welt des Glaubens und der Spiritualität entwickelten, so dass ich später als Religionslehrer über dreißig Jahre ununterbrochen katholischen Religionsunterricht erteilte und noch heute die Missio Canonica (kirchliche Lehrerlaubnis) besitze.
Ich kann also mit Fug und Recht sagen, dass die Wurzeln für diesen Entwicklungsgang eindeutig in Saalhausen gründen und hier ihre erste Nahrung fanden.
Die Weihnachtszeit war damals wie auch heute eine ganz besondere Zeit. Der Weihnachtsbaum mit seinem immergrünen Kleid war für uns jedoch nicht nur bloße Dekoration, die auch noch ständigen Modeschwankungen unterworfen war, er war für uns Symbol für das ständig sich erneuernde Leben.
Dieses wurde von uns um so tiefer begriffen, als wir doch direkt miterleben mussten, wie die Menschen mit allen Mitteln danach trachteten, sich gegenseitig umzubringen. Es war eben Krieg und die Kriegsfront mit ihren schreckliche Spuren durchzog auch Saalhausen.
War der Weihnachtsbaum von besonderer Bedeutung, so musste es auch immer ein besonders schöner Baum sein.
Damals schlug man sich noch selbst einen Baum und ich kam auf die Idee, bereits im Sommer einen besonders schönen Baum auszusuchen und zu kennzeichnen.
Mitte Dezember machte ich mich mit einer Säge unter dem Arm auf den Weg. Der Baum stand unterhalb des Mälo am Weg.
Da es bereits geschneit hatte, war es recht mühsam dort hin zu kommen. Endlich angekommen, musste ich feststellen, dass der Baum schon anderweitig Gefallen gefunden hatte, denn er war bereits geschlagen.
Während ich mich enttäuscht auf den Heimweg machte, zogen sich plötzlich die Wolken derart zusammen, dass es dunkel wurde und es setzte ein solches Schneetreiben ein, dass mir auch die letzte Sicht genommen wurde. Es gelang mir noch eben, in einem Fichtenwald nebenan Schutz zu suchen.
Als sich der Sturm gelegt hatte, war es wirklich dunkel geworden und nur der reflektierende Schnee bot eine geringe Sicht.
Wege waren nicht mehr zu erkennen und so stand ich da und wusste zunächst nicht, in welche Richtung ich gehen sollte.
Irgendwie schaffte ich es dann doch und als ich von der Helle aus die Lichter im Dorf erkennen konnte, legte sich auch die Angst, die immer stärker von mir Besitz ergriffen hatte.
Nicht nur der Weihnachtsbaum sondern auch die Krippe besaß für uns eine besondere Bedeutung, zeigte sie doch nicht nur die Armut, mit der wir uns identifizieren konnten, sondern sie war zugleich sichtbares Zeichen für den Frieden, den wir nicht hatten.
Die ersten Krippenfiguren, die ich nach dem Krieg zu Weihnachten geschenkt bekam. Ein Luxus, denn die Grundversorgung ( Nahrung, Kleidung etc. ) stand an erster Stelle und eine Krippe gab es ja in der Kirche.
Die Weihnachtsbotschaft „Friede den Menschen auf Erden“ besaß für uns eine reale, existentielle Bedeutung. Deshalb befand sich auch die Krippe in unserer Kirche an bevorzugter Stelle direkt neben dem Hochaltar, und wir Kinder konnten uns in jeder Messe, und wann immer wir in der Kirche waren, nicht satt genug sehen an dem, was dort dargestellt war, und im Mitgefühl für das arme Kind vergaßen wir sogar unsere eigene Lage.
Welche Welten liegen zwischen damals und heute! Im vergangenen Jahr sah ich im Hintergrund eines Schaufensters in Bochum eine Krippe, deren Figuren fein säuberlich im Halbkreis um eine Flasche mit einem Markengetränk aufgereiht waren.
Die dazu gehörende Botschaft lautete: "Weihnachten feiern mit...!"
Es macht nachdenklich und zugleich betroffen, wenn man sieht, wie die Dinge, die für uns Kinder damals eine nahezu heiligmäßige Bedeutung besaßen, heute zur reinen Dekoration pervertiert und als Konsumtreiber instrumentalisiert werden.
Das Kind ist nicht verantwortlich für die Welt, in die es geboren wird, aber es wächst in diese Welt hinein und somit auch in die Mitverantwortung, und das lässt hoffen. Aus vielen Unterrichtsstunden als Lehrer weiß ich, wie genau Kinder und Jugendliche fragen können und nach der Wahrheit hinter den Dingen suchen. Die Welt des Krieges, in die wir hinein geboren wurden, mussten wir so annehmen, wie sie sich uns darbot. Aber selbst diese Welt befähigte uns, das Gute aus ihr zu bewahren und zu entfalten.
Warum sollten die Kinder von heute das nicht auch können?
Anfang Januar dieses Jahres besuchten meine Frau und ich gemeinsam mit Ulla und Günter Saalhausen. Sie sind unsere ältesten Freunde nach meiner Saalhauser Zeit und kennen Saalhausen von verschiedenen Aufenthalten her. Am Nachmittag kehrten wir bei Gregors auf eine Tasse Kaffee ein. Draußen begann es bereits zu dämmern und wir unterhielten uns über die Zeit damals hier am Ort. Von uns unbemerkt hatte es heftig zu schneien begonnen. Als wir das Café verließen, war alles weiß.
Mich zog es magisch über die Brücke auf die Stenn und zu der Stelle hin, wo damals unsere alte Schule stand.
Schon von der Brücke aus konnten wir neben Hennes den kleinen Weihnachtsbaum erkennen, der mit seinen Kerzen ein trauliches Licht verbreitete.
Es fiel mir nicht schwer, genau die Stelle zu finden, an der einst meine Schulbank stand. Ich schaute über die Lenne hinweg auf die andere Seite und hatte plötzlich das Gefühl, wie vor über fünfzig Jahren durch das Fenster der alten Schule zu schauen. Da war wieder Metten Hof, über ihm die schneebedeckten Wiesen und über allem der Dolberg mit seinen verschneiten Fichten, dunkel und majestätisch.
Und da war sie wieder, die stille Zeit von damals, und ich hörte uns Kinder wieder: „Es schlafen Bächlein und Seen unterm Eise es träumt der Wald einen tiefen Traum“.
Fasziniert überließ ich mich dem Augenblick, bis Ulla bemerkte: „Du musst hier aber eine sehr intensive Kindheit erlebt haben!“
Konnte ich denn anders?
Saalhausen hat bis heute seinen
Zauber nicht verloren!