Es war kurz vor Weihnachten. In der Schule, gleich neben der Kirche, gab es einen dieser besonderen Momente. Eine eigenartige Spannung lag über der Klasse. Zwei meiner Mitschüler hatten eben in einer Wanne aus dem kleinen Kohlenkeller, der links an der Kirche angebaut war, für unseren Kanonenofen die nötigen Kohlen herbei geschafft. Wir Jungen rissen uns immer darum, wer denn heute die Kohlen holen dürfte, um sie dann mit gezieltem Schwung in den glühend heißen Ofen zu versenken. Der Ofen stand mitten im Klassenraum und spendete ringsum seine wohltuende Wärme. Das war auch nötig, denn draußen war es bereits bitterkalt, und wir konnten von Glück sagen, dass es für die Schule schon hinreichend Kohlen gab.
Hier machte ich meine erste, tiefergehende Erfahrung, die sich später noch oft wiederholen sollte und mich möglicherweise auch in meinem künftigen Verhalten geprägt hat, so dass ich schon sehr früh lernte mich zurückzunehmen und genau hinzuschauen und zu beobachten.
Denn immer dann, wenn es um das Privileg des „Kohle-Holens“ ging und sich jeder bemühte, einmal an die Reihe zu kommen, hieß es in meinem Falle: „Du kommst nicht dran, du bist nicht von hier, du bist kein Einheimischer.“ Da es stimmte, musste ich es akzeptieren. Dennoch durfte auch ich meine Kohlen holen, auch wenn ich manchmal das Gefühl hatte, Lehrer Plitt betraute mich eher aus Mitleid mit dieser praktischen, den Unterricht so schön unterbrechenden Aufgabe.
Man sieht, das Migranten-Problem gibt es nicht erst seit heute. Auch wenn es sich hier um eine vergleichsweise geringfügige Sache handelte, bei der es eher um die Bildung einer „Hackordnung“ innerhalb der Klassengemeinschaft ging, waren die persönlichen Erfahrungen und Empfindungen dieselben: Man gehörte nicht dazu.
Und da alles seine Zeit braucht, änderte sich auch hier dieser Zustand im Laufe der Zeit zugunsten einer vollen Integration. Sie führte dazu, dass viele Jahre später, als bekannt wurde, dass meine Familie wieder nach Bochum zurückkehren wollte, Lehrer Plitt eines Tages bei uns zu Haus erschien und mir vorschlug, in Saalhausen zu bleiben. Man – wer auch immer das sein mochte – wolle mir eine passende Wohnung besorgen und mich in allem Notwendigen unterstützen. Welch ein Wandel! Ich aber war noch nicht so weit, mich von der Familie zu trennen.
Zurück zu den Kleinen in der Klasse. Hier waren wir Kinder ständig bemüht, durch anhaltendes Hin- und Herrücken möglichst viel an Wärme abzubekommen, was zu einer permanenten Unruhe und manchmal auch zu kleinen Rangeleien zwischen Banknachbarn führte. Das wiederum hatte häufig mahnende Worte von Fräulein Döbbener oder Lehrer Plitt zur Folge.
Draußen wurde die Bewölkung immer dichter und dichter und verdunkelte das ganze Dorf. In der Klasse musste das Licht eingeschaltet werden. Dem Unterricht folgten wir nur noch mit halbem Interesse. Unsere Blicke wanderten immer öfter zum Fenster und nach draußen. Wir wussten genau, es wird nicht mehr lange dauern.
Und endlich war es dann so weit: Vereinzelt, gleichsam als Vorboten, fielen die ersten zarten Flocken. Dann aber setzte es mit Macht ein und es dauerte nur einen kurzen Moment und wir konnten die Kirche mit ihrem hohen Turm nur noch schemenhaft erkennen. Für uns gab es kein Halten mehr. Wir drängten uns alle an die Fenster, um besser sehen zu können. „Juchhe, juchhe, juchhe der erste Schnee!“ So sangen wir später mit Lehrer Plitt.
Die Freude über den ersten Schnee, der uns draußen wieder viele schöne Stunden versprach, ließ uns die unangenehmen Seiten des letzten und der letzen Jahre vergessen. Vergessen war – noch, dass wir oft über viele Tage hier in unseren Bänken mit durchnässten Schuhen und Strümpfen saßen und es Mittag wurde, ehe wir wieder halbwegs warme und trockene Füße hatten. Auf dem Heimweg sogen sich die Schuhe dann erneut voll, so dass wir oft den ganzen Tag mit nassen Füßen unterwegs waren.
Kein Wunder, dass es nicht lange dauerte, bis sich das erste Jucken in den Zehen ankündigte. Am Abend stellten wir dann fest, dass Zehen und Fußballen bereits geschwollen waren. Die ersten Frostbeulen hatten sich gebildet. Diese stellten ein sehr ernsthaftes Problem da, denn das Jucken, das sie verursachten, war manchmal unerträglich. Sie waren eigentlich nur mit kalten Füßen zu ertragen. Und wenn wir dann abends nach Hause kamen und unsere kalten Füße am Küchenherd wärmen wollten, lösten wir mit zunehmender Erwärmung zugleich auch den Juckreiz aus. Und wenn es nicht mehr auszuhalten war, ging es barfuß hinaus in den Schnee. Hier rannten wir hin und her und schlinderten auf unseren Bahnen, bis das Jucken nachließ. Dann hieß es so schnell wie möglich ins Bett und einschlafen, bevor das Ganze wieder von neuem begann. Wenn wir nicht aufpassten, konnte es geschehen, dass die Füße so stark anschwollen, dass wir nicht mehr in unsere Schuhe passten und auch die Schule nicht mehr besuchen konnten.
Aber auch hiermit lernten wir umzugehen. Wir achteten darauf, dass wir draußen beim Spielen ständig in Bewegung blieben, um die Füße trotz durchnässter Schuhe warm zu halten.
Das ging besonders gut, wenn wir mit Schlitten, Schlittschuh oder Skiern unterwegs waren, wobei die wenigen Skier, die es gab, meist den Großen vorbehalten blieben. Geeignete Bahnen gab es an allen Hängen, und wir konnten sie uns aussuchen. Als idealer Ski- und Rodelhang erwies sich die Helle, tagsüber für uns, die Kleinen, und abends für die Großen. Doch der Hang musste erst vorbereitet werden. Die vorgesehene Strecke begann oben auf der Helle, gleich zwischen den Tannen links und dem Finken Feld rechts und führte senkrecht die Helle hinab, am Friedhof vorbei, über das Bahngleis hinweg, das Ufer hinunter, bis ganz unten in Trillings Wiese. Beim Präparieren der Strecke erwiesen wir uns als Meister im Pistenbau: Zuerst einmal musste Schnee vorhanden sein und den gab es in heute unvorstellbaren Massen. Dann kamen die Skifahrer und fuhren eine Bahn in den Schnee hinein. Das konnte durchaus einige Zeit dauern, je nach Witterungslage. War der Schnee fest genug gefahren, kamen die Schlitten an die Reihe, und aus der Skipiste wurde eine Rodelbahn.
Die Skifahrer suchten sich andere Wege. Schien tagsüber die Sonne, so taute sie die Bahn ( Südhang ) trotz anhaltender Minustemperaturen an. In der Nacht gefror die Bahn wieder, und am folgenden Tag hatten wir eine harte, festgefrorene Eisbahn. Nun kam neben den Rodlern die dritte Gruppe, die Schlittschuhfahrer, zu ihrem Einsatz. Das waren die ganz Mutigen. Brausten schon die Schlitten in Reihe und mit einem enormen Tempo die Bahn hinab, so schossen die Schlittschuhfahrer mit noch höherer Geschwindigkeit zwischen ihnen hindurch oder an ihnen vorbei. Das war nicht ungefährlich, zumal man am Ende noch das Ufer zur Trillings Wiese hinunter donnerte – so hörte es sich an, um endlich auf dem Stückchen Wiese bis zum Zaun zum Stehen zu kommen. Es war sicher nicht ungefährlich, doch es ist mir kein Fall bekannt, bei dem einer von uns zu Schaden gekommen wäre, kleinere Blessuren nicht mitgerechnet.
Heute stehen im unteren Bereich unserer ehemaligen Bahn schmucke Einfamilienhäuschen. Doch jedes Mal, wenn ich mich in Saalhausen aufhalte und mir die Strecke vor Augen führe, bin ich mir ganz sicher: Meinen eigenen Kindern und allen, für die ich als Lehrer Verantwortung trug, hätte ich diese Strecke nie und nimmer erlaubt. Warum eigentlich?
Vergleichsweise ungefährlich aber nicht weniger spannend wurde es immer dann, wenn wir Dauerfrost bekamen. Dann konnte es so kalt werden, dass selbst die Lenne, als ein relativ schnell fließendes Gewässer, eine Eisdecke von dreißig Zentimetern und mehr bildete. Und nicht nur die Lenne. Für uns war das das reine Winterparadies.
Fuhren die einen Schlitten, so versuchten sich die anderen auf Skiern, und wer beides nicht wollte, begab sich auf das Eis. Und wer auf Schlittschuhen die Helle herunter fahren konnte, galt als Könner und hatte auf dem glatten Eis keine Schwierigkeiten. So übten wir uns in den verschiedensten Fahrkünsten, spielten Hockey oder trainierten Weitsprung mit Hilfe von aneinander gereihten Fässern oder anderen Gegenständen, die wir übersprangen. Besonders beliebt war bei uns das „Windsegeln“, keine Erfindung der Neuzeit.
Da die Lenne wie auch überschwemmte und jetzt überfrorene Wiesen oft weite Strecken an spiegelblanken Eisflächen boten, waren wir immer dann zur Stelle, wenn kräftiger Wind aufkam. Dann stellten wir uns nur auf die Schlittschuhe, mit dem Rücken gegen den Wind, öffneten weit Jacken oder Mäntel und schwebten stundenlang, auch wenn es nur ein paar Minuten dauerte, wie ein Vogel über das Eis bis zum Ende der Eisfläche.
So brachte uns der Winter neben allen Beschwernissen eine Fülle an Abwechslung und Freude. Diese Freude erlebten wir aber nicht nur im äußeren Treiben, sie entstand auch allmählich in uns selbst.
Das Leben draußen schien erloschen und Mensch und Tier hatten sich bereits in die warmen Häuser und Ställe zurückgezogen. Drinnen aber entwickelte sich ein Leben sinnvollen Tuns, wie man es sich heute kaum mehr vorstellen kann, und die Winterabende waren genau das, was man heute bereits nur noch aus Erzählungen kennt.
Immer dort, wo sich Leben abspielt, fühlen sich Kinder hingezogen. So erging es auch uns. Wir gingen in die Ställe der Bauern und keinem Bauern wäre es eingefallen, uns aus seinem Stall zu verjagen, wenn wir nach den Tieren schauen wollten. Im Gegenteil. Diese oft so schroffen und großen Männer waren plötzlich ganz freundlich und gingen sogar auf unsere Fragen ein. Dabei hatten sie es alle gleich schwer in den Kriegs- und Nachkriegsjahren.
Eine besondere Beziehung hatte meine Familie zum Finken Hof, der eigentlich Gasthof Voss hieß und auch heute noch heißt. Da war einmal Sohn Theo, der später den Hof mit der Gaststätte übernehmen sollte. Er besuchte mit mir die gleiche Klasse, war eine Zeit lang mein Banknachbar und sah anfangs ebenfalls in mir als einem Fremden, Nicht - Einheimischen, eine Gefahr für sein Refugium. Mit ihm verstand ich mich schließlich sehr gut, und ich zähle ihn bis heute zu meinen Freunden. Theo hatte es nicht leicht. Da sein Vater im Krieg war und später in Gefangenschaft geriet, musste Theo schon sehr früh mit anfassen. Ich bewunderte ihn, wie er mit dem großen Pferd und den anderen Tieren umging.
Die Beziehung zum Hof verstärkte sich noch dadurch, dass meine Schwester nach ihrer Schulentlassung das damals übliche Pflichtjahr auf dem Finken Hof verbrachte, d.h. sie arbeitete dort im Haus und auf dem Hof. Für uns erwies sich das als ein Segen. Denn wenn sie abends spät zu uns nach Hause kam, brachte sie oft eine ganze Kanne Vollmilch mit, die ihr Finken Tante Ida, die Seele des Hauses, mitgegeben hatte. Für uns bedeutete das einen Teller Milchsuppe für den Abend. Geradezu ein Luxus für uns in der damaligen Zeit.
Im Finken Stall hielt ich mich besonders gerne auf. Bei großer Kälte war die Stalltür geschlossen. Dann war es ruhig und friedlich drinnen. Ich beobachtete die Kühe, wie sie kauten und kauten und nie aufhörten zu kauen. Ob sie standen und mit langer Zunge das Heu aufnahmen, das ich ihnen hinwarf, oder ob sie lagen, um das Heu wiederzukäuen. Sie kauten. Und wenn das Pferd Hafer fraß, dann dröhnte das Mahlen der Kiefer durch den ganzen Stall.
Beim Beobachten der Tiere, die wir als Geschöpfe Gottes zu achten gelernt hatten, kamen mir manchmal die seltsamsten Gedanken: War es wohl im Stall zu Bethlehem auch so ruhig und friedlich? Da waren zwar keine Kühe und kein Pferd, aber Ochse und Esel waren ja so ähnlich und auch Geschöpfe Gottes und wir hatten bereits den ersten Advent.
Wird fortgesetzt!
Der SAALHAUSER BOTE dankt an dieser Stelle seinen zahlreichen Mitgliedern und Gönnern, die unsere Arbeit mit Beiträgen und Spenden ermöglichen. Insbesondere konnte diese Ausgabe durch die Unterstützung des Hotels Voss realisiert werden.
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