Welch’ Wunder, dass an jener hohen Stelle, wo sich das Sauerland kaum höher hebt, eine in Stein gefasste kleine Quelle zeitweise zaghaft zeigt, dass sie noch lebt.
Hier in des Kahlen Astens windgepeitschter nordischer Natur, 830 Meter höher als der Meeresspiegel, entspringt die Lenne als längster Nebenfluss der Ruhr zu ihrem Lauf um manchen Härtlingsrücken, manchen Riegel.
Kaum, dass sie dem König der Berge entsprang, stürzt sie als quirliges Rinnsal zu Tal. Steil ist zu beiden Seiten der Hang, westwärts nach Westfeld, es gibt keine Wahl.
Dort säumen aus Fachwerk mit schiefernem Dach zum ersten Mal Häuser im Sauerlandstil die Ufer der Lenne. – Noch fließt sie als Bach, denn Zuflüsse gab ’s auf dem Weg noch nicht viel.
Doch bald schon nähren, aus uralter Tiefe schwarzblauen Schiefers von Norden gesandt, die Wasser den Bachlauf, als ob er sie riefe auf die Reise zur Ruhr durch ein herrliches Land.
Nach Süden fließt nun die Lenne ein Stück dem hohen Riegel der Rothaar entgegen; der zwingt sie in Oberkirchen zurück in die Richtung nach Westen sich fortzubewegen.
Und Oberkirchen, die Perle am Fluss, eingebettet in waldreiche Höhen, leuchtet im Fachwerk. Der Wanderer muss rasten, um diesen Dorfschmuck zu sehen. Die Lenne aber fließt rastlos nach Westen am Fuße des Wilzenberges entlang. Mit Fliehburg und Galgen und Mauerwallresten ist er ein Berg von historischem Rang.
Aus den feuchten Schluchten der Hunauhänge sammelt die Sorpe das quellfrische Nass und führt es zur Lenne. – Es ist so als dränge die Lenne das Flüsschen zu füllen das Fass.
Bald liegt wie ein Schiff mit erhobenem Bug Schmallenbergs Altstadt im Talgrund voraus. Wie im sinusförmigen Kurvenzug umfließt sie die Lenne nach Westen hinaus. Dort mündet in Fleckenbergs Mitte, von Süden tief eingesenkt, das Latroper Tal, als wolle der quellreiche Strom nicht ermüden, das Wasser zu mehren unzählige Mal’.
So haben sich zwischen Saalhausen und Lenne, bei Störmecke und bei Hundesossen zahlreiche Bäche – wie man sie auch nenne – als Zuflüsse in die Lenne ergossen.
Lebendig schlängelt die Lenne sich fort durch Wiesen und Weiden, von Bergen umringt, berührt auf dem Weg manch’ schmuckreichen Ort, in dem wohl das dörfliche Leben noch schwingt.
Steinernes Kreuz an geschichtlichen Wegen, Rinsley- und Gleierfelsen im Wald zeugen von Mensch und Natur und bewegen manchen Gedanken zu alter Gestalt.
Als Pfade und Wege kaum Sicherheit boten für hiesige Menschen mit Pferd und mit Wagen, hat man an dieser Stelle die Toten über die Lenne nach Wormbach getragen.
Das liegt nun schon etliche Zeiten zurück. Viel Wasser floss seither die Lenne hinunter und wird auch noch fließen – von Gleierbrück nach Altenhundem – frisch, quirlig und munter.
Wo aus der Höhe am Rhein-Weser-Turm sich alle Wasser zum Rhein hin bewegen, führt der Flusslauf der Hundem bei Sonne und Sturm sämtliche Bäche der Lenne entgegen.
Sie mehren ergiebig die Fluten im Fluss, der nun in vielen Schleifen und Kehren das Lennegebirge durchdringen muss, um schließlich das Wasser der Ruhr selbst zu mehren.
Hier, wo der Fluss mit Lennestadt für viele historisch gewachsene Orte seinen Namen neuordnend gegeben hat, spricht man auch heute noch andere Worte:
Bilstein und Meggen und Grevenbrück, Kickenbach, Maumke und Langenei bleiben für die, die dort leben, ein Stück Heimat – wie immer der Name auch sei.
Tief unter Meggen und Halberbracht, wo die Kräfte der Erde die Schollen verschoben, hat man aus Gängen und über den Schacht Silber und Blei und Schwerspat gehoben.
Heut’ schweigen die Hämmer, weil man es so will. Der Schacht ist verschüttet, es gibt kein zurück. Tief unter Meggen ist ’s im Berg wieder still, nur die Lenne fließt weiter nach Grevenbrück.
Sie nimmt hier von Süden die Veischede auf und den Elspebach aus nordöstlicher Flur. Schon bald beschleunigt der Repe Lauf das flinke Wellenspiel in Richtung Ruhr.
Grundsätzlich nordwestlich ist jetzt die Richtung, zahlreiche Windungen stehen bevor. Das erste Mal stößt sie auf Massenkalkschichtung und gräbt durch devonischen Kalk sich ein Tor.
Ihr folgen identisch fast Schiene und Straße, von Süden her mündet die Bigge ein. Sie regelt den Wasserstrom stets in dem Maße, wie er fürs Ruhrgebiet günstig wird sein.
Hinter Finnentrop weitet die Landschaft sich auf, offener wird hier die Topographie, und in der Aue am Lennelauf sammelt Gewerbe sich und Industrie.
Es grüßt nach Lenhausen zum Wasserschloss der Heiligenstuhl herunter ins Tal. Seit der Fretterbach sich in die Lenne ergoss, wird von nun an die Talaue enger und schmal.
Aus dem Pumpspeicherbecken hoch über Rönkhausen lässt man das Wasser mit mächtiger Kraft ins Glingetal durch die Turbinen brausen, damit es Kraftstrom bei Engpässen schafft.
Die Lenne wird breiter. Über Grauwackenkiesel fließt sie dahin und umrundet in Schleifen zwischen den Ortschaften Pasel und Siesel den »Engelbertstuhl« – Geschichte zum Greifen.
In den Buchen hört man Historie rauschen. Burg Schwarzenberg lässt uns in ihrer Ruine den uralten Sagen der Markgrafen lauschen. – Im Tal rauscht das Wehr, rauscht der Zug auf der Schiene.
Von Plettenberg nähern sich Else und Grüne und reihen sich mit dem Oesterbach ein zum glitzernden Wellenspiel auf der Bühne des fließenden Wassers zum Altvater Rhein.
Und wenn im Frühjahr die Blütenpracht der Märzenbecher am alten Schloss von Brüninghausen alljährlich erwacht, spürt man die Kraft, die dem Boden entspross.
Die Landstraße läuft mit der Lenne im Bogen, die Bahn durchquert im Tunnel den Berg, an kleinsten Weilern vorbeigezogen, treibt das Wasser der Lenne ein Laufkraftwerk. In Form eines großen geschwungenen »W«, »W« wie Werdohl, so durchfließt dann der Fluss das Zentrum der Kleinstadt, bevor er zum See bei Lengelsen aufgestaut breit werden muss.
Und zwischen Verse und Lenne, hoch über Werdohl, liegen inmitten von Feldern und Forst die Weiler und Höfe, wie Eickenhohl, Harlingsen, Eicken und Köllmannshorst.
Der alte Heedhof – ihn gibt es nicht mehr –, ein typisches Einzelgehöft hier im Land, hat – fünfzig Jahre ist es erst her – fürs Licht nur Petroleumlampen gekannt.
Nichts von dem heutigen Leben, dem bunten, hat damals die Menschen hier oben erfreut, nur jenseits der Wälder im Tale tief unten rauschte die Lenne genauso wie heut’.
Heut’ hilft die Lenne von früh bis spät und täglich darüber hinaus in der Nacht durch Kühlung – wenn man Elektrizität in Elverlingsen aus Kohle macht.
Ein gewaltiges Kraftwerk mit Kühlturm und Schloten schafft Spannung in unsichtbarem Gewand, und stählerne Masten tragen als Boten moderner Versorgung den Strom über Land.
Wo der Strom viele Drahtrollen heute belebt und das Drahtziehen früher von Hand noch geschah, wo die Burg auf der Wulfsegge stolz sich erhebt, dort trifft die Lenne auf Altena.
Hier haben die Grafen von der Mark viele Jahrzehnte Geschichte geschrieben. Der Märkische Kreis ist – lebendig und stark – in Anlehnung daran als Name geblieben.
Vor Altenas engen Straßen und Gassen, wo man die Lenne hat eingezwängt, geschieht es schon mal, dass mit Wassermassen der Flusslauf über die Ufer drängt.
Wenn dann die Lenne mit trübgelber Spur die Straßen der Innenstadt überflutet, sieht man die Wassergewalt der Natur, die man im friedlichen Fluss nicht vermutet.
Die Lenne nimmt Nette und Rahmede auf und dort, wo am Prallhang die Siedlungen enden, krümmt sie sich dermaßen stark im Verlauf, als wolle sie gleichsam zur Quelle sich wenden.
Doch Mauern, die steter Kontrolle bedürfen, aus Stahlgeflecht, gefüllt mit Beton, bremsen des Wasserstroms stetiges Schürfen, verhindern den Rückschritt durch Erosion.
Das uralte Märchen der Loreley ließe sich bald schon in Nachrodt besingen, wo im Bogen an steiler Felswand vorbei die Wellen über die Klippen springen.
Doch ein anderes Lied, auch häufig gesungen, im engen romantischen Tal hier entstand. Und wie ein Bekenntnis hat es geklungen, geschrieben von Zuccalmaglios Hand:
»Kein schöner Land in dieser Zeit, …«, so hat er im Eichengrund treffend geschrieben, »… als hier das unsre weit und breit …«. – Er lernte das Lennetal damals zu lieben.
Hinter Nachrodt, da weitet sich das Tal, es öffnet sich mehr für die Strahlen der Sonne. Die Lenne trifft bald schon ein zweites Mal auf einen Massenkalkriegel bei Pater und Nonne.
Bei den Sagengestalten aus Korallengestein, wo der Grüner Bach in die Lenne mündet, haben am Burgberg von menschlichem Sein in germanischer Zeit gold’ne Funde gekündet.
Hinter Letmathe, wo die Kirche St. Kilian liebevoll Lennedom wird auch genannt, bricht sich die Lenne noch einmal die Bahn durch die Ausläuferberge vom Sauerland.
Und bald darauf fließt sie in weitem Bogen durch Hohenlimburg, an Werken entlang, wo man aus Brammen, die tonnenschwer wogen, Bänder und Bleche walzt, endlos im Strang.
Von Süden fließt die Nahmer durchs Tal als letztes Gewässer der Lenne zu. Der emsige Klang von Eisen und Stahl hat jahrelang an der Nahmer schon Ruh’.
Schloss Hohenlimburg, hoch über der Stadt, blickt wie zum Abschied ins Tal hinterher, wo die Lenne kaum noch Gefälle hat, so wie ein endender Strom vor dem Meer.
Der Mensch hat zudem den geschlängelten Lauf der Lenne in grüner Aue verlegt. Er füllte künstlich den Boden auf, so dass er, verdichtet, nun Werkhallen trägt.
Drei Autobahnen queren den Fluss, die Sauerlandlinie hoch überm Tal. Und die Lenne, sie hilft zum guten Schluss im großen Papierproduktionsareal.
Konnte sie das an der Quelle schon ahnen? Die auf dem Wege gesammelte Flut befördert in Kabel nun endlose Bahnen weißes Papier auf das Sieb – schnell und gut.
Von hier aus geradewegs, nur wenig später, mündet die Lenne in die Ruhr. Einhundertzwanzig und acht Kilometer dauerte ihre Sauerlandtour.
Vor der Sigiburg über der felsigen Wand, wo die Sachsenkönige haben gestritten, verlässt nun die Lenne das Sauerland, in das sie sich mühsam hat eingeschnitten.
Im Hengsteysee, dort mit der Ruhr still verbunden, beendet sie ihren lebendigen Lauf. Sie hat ihre Sauerlandschwester gefunden – zum Vater, zum Rhein machen sie sich jetzt auf.