Aus bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen von Josefa Berens - Totenohl.
von Heinrich WürdeDer Bauer Jost war von kleiner Gestalt. Seine Frau Apollonia aber war gewaltig groß, breit und stark. Es war nicht zu begreifen, wieso diese beiden Menschen ein Paar geworden. Aber Gegensätze ziehen sich an; und vermutlich wären beide ledig geblieben, hätten sie es nicht zusammen gewagt.
Natürlich hatte Apollonia gleich zu Anbeginn das Regiment in ihre Hand genommen und den kleinen Bauern sicher und ungefährdet durch die Jahre gebracht. Es brauchte das nicht einmal eine Schande zu sein, so stumm und still zu gehorchen, denn das wäre auch anderen und stärkeren seines Geschlechts ebenso ergangen. Dafür war jene eben die mächtigste Frau weit und breit. Dabei hatte Jost durchaus nicht das schlechteste Leben bei der Frau. Sie duldete es sogar, dass er ab und zu einen Schnaps trank. Und wenn er sich gelegentlich etwas über das rechte Maß hinaus vergönnte, so wurde auch das leidlich hingenommen.
In Lebensgefahr ist der kleine Mann niemals gekommen. Aber die Apollonia war eine fromme Frau, die es in allen Dingen sehr ernst nahm, auch mit Josts Trinken.
Sie war der Meinung, dass man jede Sünde und Untat auf der Stelle wieder in die rechte Ordnung zurückführen müsse, anstatt eine auf die andere zu häufen. So hatte sie für ihren Bauern eine Art ersonnen, welche zeitlebens gut geholfen hat. Wenn der Mann aus der Schenke heimkam, wohin er im Laufe der Jahre immer mehr den Weg nahm, und wenn er nach Schnaps roch und auch sonst recht unsicher in die Kammer trat, dann ließ sie ihn im Bett aufrecht sitzen und den bekanten Bußpsalm beten; „Aus der Tiefe rufe ich zu dir, o Herr…” Natürlich hatte sie noch die alte kräftige Form der Mundart, welche also lautet:„Iut ter daipen Kiule, raupe ik tau dey,o Heer,o Heer, erhöre meyn Gehuile…”
Sie kannte den ganzen Psalm in dieser Art und hatte ihn ihrem Jost zur rechten Zeit beigebracht. Wenn er nun mit dem Gebet begann und wenn es glatt vonstatten ging, dann war es mit seinem Zustand nicht so schlimm. Blieb er aber unterwegs haken, was oft allzu bald geschah, dann konnte Apollonia den Grad seiner Trunkenheit oder Betrunkenheit genau feststellen und ihre Strafe danach einrichten.
Aber wie gesagt; in Lebensgefahr kam Jost nicht. Und doch; kein Mensch lebt ewig, und sei er so gut aufgehoben wie Jost bei seiner Apollonia.
Ja, gerade er sollte vor der Zeit sein letztes Stündlein haben. Und dieses Stündlein hielt die fromme Frau noch einmal ganz fest in ihrer sorgsamen Hand.
Als ihr der Arzt über den nahen Tod ihres Mannes reinen Wein eingeschenkt hatte, als Jost daraufhin alles das gerichtet und besorgt hatte, was vor dem Sterben notwendig ist; als das Testament für das vergehende wie für das kommende ewige Leben gemacht worden war, da wollten die beiden die letzten Atemzüge, welche Jost noch verblieben, miteinander haben.
Apollonia saß an seinem Bette, hielt die schon erkaltende Hand in ihrer mächtigen Rechten. Sie fragte, ob er noch einen Wunsch habe. Er nickte: „Einen Schnaps”, hauchte er. Die Frau erschrak. Dann aber sollte sich ihr großes Herz zeigen. Warum dem Mann jetzt noch einen Wunsch versagen, da es leicht der letzte sein konnte?
Sie ging und kam mit einer vollen Flasche zurück. Jost Augen, die schon fast erloschen waren, leuchteten noch einmal auf. Die Frau sah es und reichte ihm gern die Labung. Er schlürfte den Trank und sank wohlig getröstet zurück.
Bald darauf aber hatte er wieder einen Wunsch, und es war der gleiche. Die Frau spürte ihr gutes Herz und erfüllte auch ihn. Sie tat es sogar ein drittes Mal. Und sie empfing einen Dankesblick. Der Kranke aber hatte fortan seine Augen auf die Flasche gerichtet, wieder und wieder, und seine Miene war ein einziges Verlangen. Schließlich wagte er zu bitten. Es geschah aber schon in brechendem Atem. Da besann sich Apollonia auf den Ernst der Stunde. „ Nein!” sagte sie kurz. „Hier wird nicht getrunken, hier wird gestorben.” „Einen – einen – einen einzigen-!” bettelte Jost.
„Erst das Gebet!” befahl sie und fing mit ihm an: „Iut ter daipen Kiule – raupe ik- tau dey – o Heer – o Heer –.”
Apollonia war erlöst, Jost konnte noch mit. Er war noch nicht betrunken. Noch einen Schnaps durfte sie ihm vergönnen und schenkte ein. Aber als sie ihn dem armen Manne darreichen wollte, war er entschlafen. Mit dem Psalm auf den Lippen war er dahingegangen.