Herr Krüsemann war für mich so etwas wie ein Bote aus einer Welt, jenseits meines dörflichen Horizonts. Die Sehnsucht, diese Welt einmal kennen zu lernen, entsprang einer wunschhaften Vorstellung ohne einen konkreten Bezug. Sicher – ich hatte bis dahin schon einige Male meine Geburtsstadt Bochum besucht, doch diese Besuche waren im Vergleich zu Saalhausen anfangs eher enttäuschend. Das gewaltige, unüberschaubare Stadtgetriebe schüchterte mich kleinen „Dorfjungen” nahezu ein.
Wenn an Saalhausens „Hauptverkehrsknotenpunkt”, direkt vor der Drogerie Hahlbrauck, wo der Weg „Auf der Stenn” in die Dorfstraße einmündete, das Verkehrsaufkommen so groß war, dass hin und wieder die Vorfahrt der Dorfstraße beachtet werden musste, so sah ich mich in Bochum Kreuzungen ausgeliefert, in denen sich vierspurige Straßen und zwischen den Doppelspuren noch zweispurige Straßenbahngleise kreuzten.
Doch trotz aller Verkehrsregelung durch Ampeln, die wie eine Uhr über der Kreuzungsmitte hingen und deren Zeiger die freie Fahrtrichtung anzeigten oder durch einen Verkehrspolizisten, der auf einer Tonne stand und gestenreich den Verkehr lenkte, trotz all dieser Regelungen traute ich mich anfangs nicht, den langen Weg über eine solche Kreuzung alleine zu gehen.
Ganz anders, wenn ich wieder zurück in Saalhausen war. Hier empfand ich die Stille des Dorfes und seine Überschaubarkeit als angenehm und beruhigend. Die Dorfstraße konnte man nach dem Gehör überqueren und selbst ein Fahrrad erkannte man rechtzeitig am Rollgeräusch der Reifen.
Wie sich die Zeiten geändert haben ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass die als Kind so gewaltig empfundenen Kreuzungen in der Stadt durch die dem Verkehrsaufkommen angepassten Regelungen allen Verkehrsteilnehmern ein Höchstmaß an Sicherheit gewähren, während es an dem „Knotenpunkt” vor Hahlbrauck bei dem heutigen Verkehrsaufkommen manchmal lebensgefährlich sein kann. Diese Art von Sorgen hatten wir damals noch nicht. Unser Verkehrsmittel schlechthin war das Fahrrad. Das heißt aber nicht, dass jeder, der wollte – wie es heute durchweg der Fall ist – über ein eigenes Fahrrad verfügte.
Mein erstes Fahrrad verdankte seine Existenz in der Hauptsache drei verschiedenen Vorgängern. Da war einmal der nackte Rahmen ohne alles von Vorgänger Nummer eins, das Vorderrad von Vorgänger Nummer zwei und das Hinterrad von Nummer drei. Hierbei sind die Vorgänger von Sattel, Lenkstange, Kettenrad usw. nicht mit berücksichtigt. Bis ein solches multimechanisches Kunstwerk einmal lief, bedurfte es eines ausgeprägten technischen Sachverstandes und den hatten wir uns im Laufe der Zeit in hinreichendem Maße angeeignet.
Mein erstes neues Fahrrad jedoch bekam ich erst, als ich die Schule bereits verlassen hatte. Hieran hatten die beiden jüngsten meiner drei älteren Schwestern einen gewissen Anteil. Dazu sei angemerkt, dass der Stellenwert eines jüngsten unter insgesamt fünf Kindern sich in der Regel dadurch auszeichnet, dass er noch entweder zu klein oder zu jung ist, um alles verstehen zu könne, gleichgültig wie alt er bereits geworden ist, oder aber er erfährt eine solche Zuwendung von den großen Schwestern, dass immer dann, wenn so etwas geschieht, äußerste Vorsicht geboten ist. Hin und wieder jedoch zeigt sich eine solche Zuwendung durchaus als brauchbar und praktikabel. So erging es auch mir bei der Anschaffung des neuen Fahrrades.
Fahrräder wurden nach der Währungsreform bereits in ausreichender Anzahl angeboten und waren auch durchaus erschwinglich. Dennoch musste erst einmal das Geld beisammen sein, um sich den Luxus eines neuen Rades erlauben zu können.
Die Aufbruchsstimmung nach den dunklen Kriegsjahren hatte zur Folge, dass auch in Saalhausen schon seit einigen Jahren Tanzkurse im Schmitten Saal angeboten wurden. Als mein Jahrgang sich vom Alter her als geeignet erwies und somit der Weg zur Anmeldung zum Tanzkurs frei war, meldete sich meines Wissens der ganze Jahrgang wie erwartet an.
Doch in den Kursen – nicht nur in Saalhausen – zeigte sich das Phänomen des Jungenüberschusses. Man erklärte sich das damit, dass in Kriegszeiten immer ein Geburtenüberschuss an Jungen zu beobachten sei. Fakt war, es fehlten immer Mädchen.
Hier nun kamen die beiden jüngsten meiner drei älteren Schwestern ins Spiel. Beide gehörten dem Kreis derjenigen an, die die Tanzschule angeworben hatte, um die Lücken in der Damenriege aufzufüllen. Kostenlos selbstverständlich. Da sie ihre Sache besonders gut machen wollten, wurde auch zu Hause fleißig geübt. Hierzu benötigte man aber einen Tanzpartner und ihre Zuwendung traf wen…? Somit hatte ich gegenüber meinem Jahrgang den Vorzug, privat und unter Ausschluss der Öffentlichkeit, d.h. ohne das gefürchtete Spießrutenlaufen – man wollte sich ja nicht blamieren – in alle damals gängigen Tänze nachhaltig eingeführt zu werden.
Zeitgleich mit der Anmeldung zum Tanzkurs stellte sich mir die Frage nach dem neuen Fahrrad und es wurde schnell deutlich, dass beides gleichzeitig nicht möglich war. Meine Schwestern sahen mein Dilemma, und da zeigte es sich, dass schwesterliche Zuwendung auch ihr Gutes haben kann. Sie rieten mir zum Kauf des Fahrrades und regten zugleich an, mich künftig nicht mehr nur als Hilfspartner für ihre eigene tänzerische Vervollkommnung zu betrachten sondern als Tanzschüler, der in die Lage versetzt werden muss, mit seinem Jahrgang sozusagen „Tanz”-Schritt halten zu können. Dabei erwiesen sie sich als unerbittliche Lehrmeister. Ihrem Rat folgend verzichtete ich auf den Kurs, lernte dennoch tanzen und bekam mein erstes, funkelnagelneues Fahrrad.
Um die wirtschaftlichen Relationen in der damaligen Zeit verstehen zu können, muss man wissen, dass ich, wie die meisten aus meiner Klasse, bereits eine Lehrstelle gefunden hatte, mich im ersten Lehrjahr befand, einen „Lehrlingslohn” von 30,00 DM monatlich erhielt, diesen als Unterhaltsbeitrag zu Hause abgab und mir selbst ein wöchentliches Taschengeld von 2,00 DM erlaubte. Somit trug der eingesparte Tanzkurs zu einem wesentlichen Teil zur Finanzierung des Rades bei.
Ob altes oder neues Rad, für uns war es das Vehikel, das uns die Gegenden über Saalhausens Grenzen hinaus im wahrsten Sinne des Wortes erfahren ließ. Dazu gehörten z.B. Fahrten über Altenhundem und die Hohe Bracht nach Bilstein und das nicht nur der Burg wegen, sondern hauptsächlich wegen einer großen Kugel Eis, die es dort für einen Groschen gab. Beim „Finken Vatter”, der damals ebenfalls mit dem Eisverkauf begann, war die Kugel wesentlich kleiner.
Zu Hause wurde das Rad zum Turn- oder Experimentiergerät. Wer springt im vollen Lauf auf den Sattel, wer schafft es, mit der Lenkstange im Rücken am weitesten rückwärts zu fahren, wer traut sich, zu dritt den schmalen Waldweg oberhalb der Mühlschlacht in Richtung Milchenbacher Brücke zu fahren oder, als Königsdisziplin, wer schafft die längste Strecke auf einer Schiene der Bahngleise? Es lässt sich unschwer erkennen, dass all unser Treiben stets Wettkampfcharakter hatte ohne gezielte Absichten. Es war einfach so. Wir erprobten uns und das war gut so.
Hier nun kam wieder Herr Krüsemann ins Spiel. Neben den wöchentlichen Messdienerstunden am Nachmittag versammelte er uns, die wir jetzt die beinahe Großen waren, des Abends in seinem Zimmer, das er auf Rötz Hof bewohnte, zu Heim- und Singeabenden. Hier sangen wir alle Volks-, Wander-, Fahrten- und Lagerlieder, die das Altenberger Singebuch und später auch die Mundorgel hergaben. Er kannte sie alle und wir lernten sie nur zu gerne von ihm, während er uns mit seiner Gitarre begleitete.
„Es blühet im Tale tief drinnen die blaue Blume fein. Die Blume zu gewinnen, zieh’n wir in die Welt hinein …” So sangen wir, und dieses Symbol der Sehnsucht nach der Ferne, der unerfüllbaren Wünsche und Hoffnungen aus der Zeit der Romantik nistete sich in unsere Phantasie ein und trieb auch uns „Hinaus in die Ferne…”! Also machten wir uns zu Fuß und mit unseren Rädern auf den Weg und erkundeten zunächst die nähere Umgebung. Lenne aufwärts ging es bis Fredeburg oder Oberkirchen, abwärts bis Altenhundem und dann hinauf nach Kirch-, und Oberhundem und weiter bis zum Rhein-Weser-Turm. Doch die Nahziele hatten wir irgendwann hinreichend erkundet. Folgerichtig drängte es uns weiter hinaus. Das aber bedeutete, dass die nächsten Ziele nicht mehr in einer Tagestour erreichbar waren. Wir mussten uns auf die Notwendigkeit des Übernachtens einstellen.
Hier kam in der Hauptsache das Zelten in Frage. Die Probleme mit Isomatten, Luftmatratzen, Schlafsäcken oder Zelten jeglicher Art kannten wir schon deshalb nicht, weil es sie schlicht noch nicht gab. Zum Schlafen stand uns als Unterlage eine Wolldecke zur Verfügung, mit der man sich möglichst auch noch zudecken konnte und als Zelt so genannte Ami-Zeltplanen.
Dieses waren dreieckige Regenplanen, die sich die amerikanischen Soldaten bei Bedarf umhängten. Man konnte aber auch zwei oder mehrere dieser Planen zusammenknöpfen und daraus ein Ein-, Zwei- oder Mehrmann-Zelt herstellen. Über die Wettertauglichkeit machten wir uns am besten keine Gedanken, denn wir hatten bereits vorher erfahren müssen, dass Wasser keine Schranken kennt und auch vor Ami-Zelten nicht Halt macht. So war immer dann, wenn wir unterwegs waren, die Hoffnung auf gutes Wetter unser ständiger Begleiter.
Die Mehrzahl der Nächte, die wir unterwegs verbrachten überstanden wir trocken. Dazu verhalf uns unter anderem auch die Scheune des Bauern, der uns erlaubte in seinem Heu zu übernachten wie auch die Jugendherbergen, wie die in Detmold, die bereits belegt war, als wir dort ankamen. Man konnte uns nur noch einen großen Raum hoch unter dem Dach voller abgestellter, dreistöckiger Betten anbieten, die wir uns notdürftig herrichteten. Kein Wunder, dass uns die Höhe der Betten dazu reizte, diese durch gleichmäßiges Schaukeln auf ihre Stabilität und Standfestigkeit zu prüfen. Das Ergebnis war, dass die eng nebeneinander stehenden Betten sich mit Gepolter wie fallende Dominosteine in Bewegung setzten. Eine stabile Außenwand stoppte die Bewegung. Anerkennende Worte von Herrn Krüsemann blieben aus.
Nicht immer war das gute Wetter auf unserer Seite. So zelteten wir eines Tages von Detmold kommend in der Mantinghauser Heide bei Paderborn in einem Fichtenwald, von dem wir uns Schutz gegen drohenden Regen versprachen. Die Zelte wurden wie gewohnt errichtet. Um uns gegen die Feuchtigkeit von unten zu schützen, legten wir wie immer den Zeltboden mit einer dichten Lage aus Kiefern- und Fichtenzweigen aus, die wir entweder gesammelt oder von den Bäumen geschnitten hatten. Gegen das Pieksen und Stechen schützten uns unsere Wolldecken und entsprechende Kleidung, z.B. lange Hosen. Den Rest mussten wir ertragen. So sahen wir morgens manchmal recht bunt aus.
In dieser Nacht im Kiefernwald wurden wir von einem strömenden Regen regelrecht überflutet. Ich wurde durch meine Zeltplane geweckt, die von außen eine Wasserpfütze gebildet hatte und nun kalt, nass und schwer auf meinem Gesicht lag, Im Schein der Taschenlampe konnten wir beobachten, dass sich auch unter uns etwas tat. Da unser Zeltplatz leicht abschüssig war, zeigten sich die ersten kleinen Rinnsale unter der Packlage in unseren Zelten. Doch diese kleinen Rinnsale wurden immer stärker, so dass sie bald unsere gesamten Unterlagen überfluteten. Irgendjemandem gelang es, trotz des Regens unter einem besonders dichten Baum ein Feuer anzuzünden. Wir wärmten und trockneten uns an dem Feuer und verbrachten so den Rest der Nacht. Die „Blaue Blume” haben wir nicht gefunden, aber wir lernten zu begreifen, dass auch der Weg das Ziel sein kann.
Unvergessen bleiben mir die Offenen Singen mit dem bekannten Musikpädagogen Gottfried Wolters auf der Burg Bilstein, zu denen uns Herr Krüsemann mitnahm. Hier erlebte ich zum ersten Mal bewusst den Klang von vier gemischten Stimmen. Besonders beeindruckend war die große Zahl an Mädchen und Jungen, die sich bereits im jugendlichen Alter befanden. Die Jungen, die bereits den Stimmbruch überwunden hatten, ließen mit Ihren dunklen Stimmen völlig neue Klangbilder entstehen. Auch wenn wir in der Schar der großen Sänger und Sängerinnen, die soviel mehr konnten als wir, unterzugehen glaubten, so waren wir dennoch begeistert.
Etliche Jahre später trat mir immer wieder dann dieses Erlebnis vor Augen, wenn ich während des Studiums an den wöchentlichen Proben des Hochschulchors – nun aber als vollwertiges Mitglied – teilnahm. Und niemand konnte erahnen, welche Bilder in mir wachgerufen wurden, wenn ich den Chor in Vertretung von Professor Kohnle, selbst leiten durfte. Hier stand ich nun auf Augenhöhe mit den „großen Jungen und Mädchen” und wir erarbeiteten die gleichen Liedsätze und ich erlebte die gleichen Klänge, die ich erstmals auf der Burg Bilstein wahrgenommen hatte.
Alles fließt und auch in Saalhausen blieb die Zeit nicht stehen. Wir hatten unsere Schulzeit beendet. Da überraschte uns eines Tages die Nachricht, dass Herr Krüsemann heiraten wolle. Eine solche Nachricht ist in einem jeden Dorf ein Ereignis. So auch hier. Wir fanden uns schnell zusammen um zu überlegen, was da zu tun sei. Ein Geschenk musste her und den Impuls gab Herr Krüsemann selbst. Immer dann, wenn wir beim gemeinsamen Singen mit besonderer Inbrunst unsere Sangeskunst zum Besten gaben, kam sein verzweifelter mit rollendem Zungen-„R” artikulierter Ausspruch: „Err rröhrrt wie ein Rrothirrsch in derr Rrüspe”. Folglich bekam er einen majestätischen Hirsch aus Porzellan geschenkt. Wichtiger erschien uns jedoch der Gedanke, an seiner Trauung möglichst die gesamte Messdienerschar, die ihm so sehr am Herzen lag, teilnehmen zu lassen.
Am Vorabend des Hochzeitstages, dem Polterabend, machte sich dann eine kleine Abordnung aus unserer Mitte auf den Weg zum Hause Stracke, denn seine Auserwählte war Renate Stracke. Brav überreichten wir unser Geschenk und versuchten, uns schnell wieder zu verabschieden, denn unter den vielen Menschen fühlten wir uns nicht so recht wohl. Dennoch fand Herr Krüsemann eine Gelegenheit, uns besorgt nach der Gestaltung des Brautamtes zu fragen und ob wir an die beiden Messdiener gedacht hätten.
Die Überraschung war vollkommen gelungen, als er mit seiner Braut am folgenden Tag von Pfarrer Piel und einer ganzen Prozession von Kerzen tragenden Messdienern feierlich zum Altar geführt wurde.
Ostern 1954 verließ Herr Krüsemann Saalhausen, nicht ohne mir vorher seine gesamten Unterlagen für die Messdiener- und Jugendarbeit zu überlassen. Er überließ sie mir in der Erwartung, dass ich seine Arbeit fortführen möge. Herr Krüsemann übernahm eine kleine Schule in Wirme.
Auch für mich ging damals eine prägende Phase zu Ende. Die Zeit, die nun folgte, war von einer völlig anderen Qualität. Die Schonzeit der vergangenen Jahre wurde ersetzt durch den „Ernst des Lebens”, den wir bisher mehr als verbale Drohung kennen gelernt hatten.