Frau Helga Rameil gab uns diese Aufzeichnungen von Frau Lisa Figge (†). Sie war die Schwester der Mutter von Heinz und Emil Rameil.
Herr Günter Becker aus Altenhundem wies uns darauf hin, dass dieser Artikel bereits einmal in den Heimatstimmen des Kreises Olpe, Folge 139 (1985) erschienen ist.
Fortsetzung
Hennes und Werner ließen wir seit mehreren Tagen nicht mehr allein vom Hause fortgehen. Sie waren auch heute schon mit Beckmanns Kindern und ihrer Mutter im Keller. Karl stand -die Flugzeuge betrachtend - vor dem Hause auf der Straße; ich selbst lief auf oben erwähntes Geräusch hin nach unten. Noch in der Kellertreppe überraschte mich der erste Bombenteppich.
Magda, Frau Beckmann und die 4 Kinder kamen aus dem Heizungskeller gekrochen, und wir lagen still -auf das Ende wartend - im Kellerflur. Alles war nach kurzen Minuten vorüber. Karl kam durch die Kellertreppe herunter, uns beruhigend zuredend und verschwand - als es einige Augenblicke ruhig geblieben war - durch ein Fenster des Heizungskellers. Bordwaffenbeschuss brachte ihn noch zweimal auf demselben Wege zurück mit der Nachricht, dass die Hälfte der Apotheke eingestürzt sei.
Als es ruhig blieb, war er fort, um Verschütteten und Verwundeten zu helfen. Und was war geschehen? Etwa 12 Flugzeuge hatten, über die Töte kommend, ihre Bombenlast über das Innendorf ausgeschüttet, wohl um die Bahnanlagen zu zerstören. Doch der Schaden dort war nicht groß, dagegen sah es im Innendorf wüst aus. Die am meisten außen liegenden Bomben hatten:
1. einen großen Trichter in Wiethoffs Garten neben der Apotheke gerissen. - Durch die Wirkung dieser Bombe war noch die Hälfte der Apotheke gehoben worden und dann in sich zusammengestürzt.
2. die Brückenwaage mit ihrer Einrichtung (bei Schneider-Bickmann) völlig zerstört. - Einer der Seitenbalken fand sich vor Buchbinder Wiethoff wieder. Auf unserem Dachboden fanden wir nachher mehrere Pflastersteine, die auch von dort stammen mussten.
3. einen Trichter jenseits der Bahn in der Hundem hinter dem Schuhgeschäft Traut und dem Nebenhaus Schmidt zurückgelassen.
Diese drei Trichter bezeichnen noch am besten den Umkreis, in welchem die Verwüstung vor sich gegangen war. Schmelzer-Webers Haus war ganz verschwunden.
Aus den Trümmern des angebauten Hobergschen Hauses konnten ein Toter und die Tochter als Verwundete geborgen werden. (Karl Wiethoff holte sie als erste nur mit der Arbeit seiner Hände aus den Trümmern heraus). Das an der Straße gelegene Schmelzersche Steinhaus, das von Kaufmann Knipp bewohnt wurde, war zusammengestürzt, doch der abgestützte Luftschutzkeller hatte gehalten. Desgleichen waren das Hauptgeschäft von Drechsler Schulte (Fachwerkhaus), das sich anschließende Friseurgeschäft Mertens und die Hälfte des Wohnhauses Stracke (Hessen Berta) in sich zusammengestürzt.
Eine Reihe Verschütteter konnte nach vorsichtiger mehrstündiger Arbeit aus ihnen geborgen werden, doch hatte dieser Einsturz auch mehrere Tote gefordert. Das Gebiet, auf dem Bauer Schneiders Hof stand, war mit Bomben besät. Das Hauptgebäude und die beiden kleinen Wohnhäuser waren so zerstört, dass sie nicht mehr zu bewohnen waren.
Was von Häusern in dem oben umgrenzten und anschließenden Gebiet übriggeblieben war, sah wüst aus und zeigte mehr oder weniger große Schäden. Wände waren eingestürzt oder gerissen, der Verputz von den Decken gefallen, die Dächer abgehoben oder teilweise zerstört, Fensterscheiben eingedrückt usw. Auch in unserm Haus herrschte der Gräuel der Verwüstung, am schlimmsten sahen die nach vorn gelegenen Zimmer aus. Doch war man im ersten Augenblick nur froh, dass man mit heiler Haut davongekommen war, besah sich kurz die Verwüstung und begann - aufzuräumen. Zunächst die Küche und das dahinter gelegene Zimmerchen, um wenigstens einen Raum zu haben, in dem man sich aufhalten konnte. Kaffee konnten wir, wenn auch mit einiger Verspätung, wieder am altgewohnten Platze trinken. Nur Hennes war der Schreck doch gewaltig in die kleinen Glieder geschlagen. Er lag nach dem Kaffee im Hofe und klagte über Leibweh und hatte sich vorher wie auch Klein-Werner doch so tapfer gehalten. Nach dem Kaffee kamen Emil und Billa (Mädchen) aus Totenohl. Billa half uns beim Aufräumen, und Emil nahm Hennes per Rad mit nach Totenohl, wo er die nächste Zeit unter Tante Threschens und Tante Hedwigs Obhut verbrachte. Werner blieb bei uns in Altenhundem.
Aufräumungstrupps aus Altenhundem und den umliegenden Dörfern sorgten in den nächsten Tagen dafür, dass die Straßen wieder freigemacht und das noch vorhandene Gut der betroffenen Familien geborgen wurde. - Allerdings sollten solche Aufräumungsarbeiten nur unter Aufsicht durchgeführt werden, damit die Ausschreitungen, die bei solchen Vorkommnissen allzu leicht überhandnehmen, unterbleiben oder auf ein erträgliches Maß eingeschränkt werden. -
Die Handwerker der ganzen Gegend hatten in jenen Tagen alle Hände voll zu tun. Die Arbeit der Glaser und Schreiner stand im Vordergrund. Die notwendigsten Reparaturen an den Dächern (sie wurden meistens mit großen Blechplatten gedeckt) musste jeder selbst vornehmen.
Nach wenigen Tagen fuhren die Züge wieder aus dem Bahnhof nach Hagen und Fredeburg. Das normale Alltagsleben begann wieder mit seinen Anforderungen, nur unruhiger und nervöser war es geworden. Im Dorf sprach man viel vom Bau von Stollen in die Felsen - bisher hatte man auf dem Lande solche Sicherheitsmaßnahmen nicht für notwendig gehalten. Der alte Sängers Eiskeller, der, neben dem Kino gelegen, als Schutzraum für die Kinobesucher gegolten hatte - denn Schutzräume mussten überall vorgesehen sein bei öffentlichen Gebäuden und auch in Privathäusern, so war die Bestimmung, wurde besser gesichert. Ihn haben in den nächsten Wochen, als die Unsicherheit sich ständig vergrößerte, die Bewohner der Bahnhofs- und Kampstraße gern aufgesucht. Manche verbrachten dort ganze Tage, manchmal auch die Nächte. In den Privathäusern wurden die Schutzräume aus der Not heraus auch verbessert. Man brachte Stützen an und traf Vorsorge für ein Eingeschlossen- und Verschüttet werden. Sonst lief das Leben seinen gewohnten Gang. Um vieles schwerer und unerträglicher wurde es aber im Innendorf, als am 5. März, kurz nach 4:30 Uhr nachmittags, das zweite Bombardement das Dorf traf. Wieder kam der Anflug über die Töte, doch hatte sich diesmal das Ziel etwas verschoben. Im Mittelpunkt des Bombenteppichs lag die Gegend Kirche - Marktplatz - vordere Kampstraße. Die Kirche selbst zeigte einen schweren Treffer in der direkten Nähe des Marienaltars. In ihrer Nähe gab es ein ganzes Trichterfeld. Der Eingang des Splittergrabens auf dem Marktplatz war ebenfalls getroffen, aus dem Graben selbst konnten nur Tote geborgen werden.
Das sog. „Schloss Hurra”, unser Sirenenträger, lag in Trümmern. Aus ihm wurde nach mehrtägigem Suchen neben mehreren Toten auch Onkel Heinrich Wiethoff geborgen. Einige Stunden vorher hatte er den Mittagsalarm noch in voller Gesundheit mit uns im Schutzraum Lennestraße 4 verbracht.
An der Bahnhofstraße waren mehrere Häuser (Kaiser und Nebenhaus) zerstört, andere schwer beschädigt (z. B. Dr. Schneider), auch die Straße selbst zeigte einen großen Trichter. Weitere Bomben hatten den ersten und neueren Teil der Kampstraße getroffen. Dort waren in den letzten 10-15 Jahren schöne moderne Wohnhäuser entstanden, die vorwiegend von Beamten bewohnt wurden.
Manches stand nun zerstört oder schwer beschädigt. Die uns zunächst liegende Bombe hatte das Otto Wächtersche Haus zum Einsturz gebracht; aus seinen Trümmern mussten mehrere Tote geborgen werden. Kurz daneben, vor Dr. Hessen Treppe, war ein zweiter Trichter. Das Lager von „Appel-schulte” zeigte große Beschädigungen. Unser eigenes Haus und die nächste Umgebung bot ein trostloses Bild. Die am weitesten außen liegenden Bomben hatten die neue Post schwer beschädigt, das alte Laken-Haus mit dem daneben liegenden Guntermannschen Haus zerstört und einen Trichter in die Lenne gerissen.
Wir selbst haben diesen Angriff im eigentlichen Luftschutzkeller überlebt. Da er nach hinten im Hause lag, bekamen wir die Wirkungen der Zerstörungen diesmal mehr zu spüren als beim ersten Male.
Karl Wiethoff selbst war wieder wie beim ersten Male außerhalb des Hauses. Er musste sehen, das Sich-in-einem-Schutzraum-in-Sicherheit-Bringen entsprach nicht seiner Art. Diesmal beobachtete er das Kommen der Flugzeuge und das Auslösen der Bomben neben seinem elterlichen Hause, dicht an einer Mauer liegend. Ein plötzliches Aufschauen und sofortiges Wegziehen des Kopfes bewahrte ihn davor, dass sein Kopf durch einen heranfliegenden Stein getroffen wurde. Große Not befiel ihn sofort darauf, als er sein Haus Lennestraße 4 in einer großen Staubwolke verschwinden sah, während die beiden Nachbarhäuser sichtbar waren. Da aber nur die Staubwolke von Wächters über es hinweggegangen war, stand es schon wieder im Blickfeld, als er die Lennestraße erreichte, und er fand uns alle wohlbehalten - wenn auch vom Schrecken mitgenommen -im Keller. Sich von der Tatsache überzeugt, ein paar gute und ruhige Worte gesagt haben und wieder gegangen sein, war das Werk eines Augenblicks.
Als ich ihm folgte, sah ich ihn noch gerade durch Wächters Garten zum Wächterschen Hause springen, um dort Such- und Hilfsdienste zu leisten. - Kurze Zeit, nachdem er gegangen, wurde die zweite Welle Flugzeuge hörbar. Alles lief, von panischer Angst gepackt, wieder in Deckung, diesmal dem Gewiss-Kommenden voll größter Not entgegensehend.
Und es kam. - Doch waren die Detonationen nicht mehr so nah wie beim ersten Male. Der Luftzug allerdings war stärker zu spüren, so dass ich laut ins Beten, in dem sich die Not der Frauen und Kinder einen flehenden Ausdruck suchte, hereinrief: Mund auf!
Diesmal lag das Trichterfeld jenseits der Bahn an der Böschung zur Bilsteiner Straße, und ein zweites größeres lag weiter oben im Walde unterhalb der Felsengruppe im Wimberg …
Als am gleichen Nachmittage gar zum dritten Male der Ruf: „Flugzeuge!” durch die Straßen schallte und ein Teil der Menschen laufend das Innendorf zu verlassen strebte, da stieg die Not fast zur Hoffnungslosigkeit. Doch flogen diesmal die Flugzeuge über uns weg, ohne zu werfen.
Das Haus sah schlimm aus, der damalige Luftdruck, von vorn kommend, nun der gewaltige Druck von der Gegenseite hatte in allen Stockwerken einen Teil der Mauern reißen lassen. Aus der Wand zwischen Küche und Esszimmer waren Stücke herausgefallen, das größte, eine ganze Füllung zwischen den Balken, stand fest auf der Küchenheizung. An den Decken gähnten in großen Stücken die Latten; die Türen und Fensterbalken waren z. T. herausgerissen, und das Durcheinander im Hause war unbeschreiblich.
Diesmal ging das Aufräumen nicht so leicht vonstatten wie beim ersten Male. War damals noch Zuversicht und das Gefühl, dem Kriege auch seinen Zoll zahlen zu müssen, oben gewesen, so tat man nun das Notwendige schweren Herzens in dem Bewusstsein, dass das Schicksal des Einzelnen restlos dem größeren Geschehen preisgegeben war. Frau Beckmann reiste mit den beiden Kindern noch am gleichen Nachmittage ab zu Verwandten nach Wenholthausen. Magda wurde von Hedwig nach Totenohl (Gleierbrück) geholt. Diesmal ging auch Klein-Werner mit, der sich auch diesmal wieder still und tapfer verhalten hatte. Elisabeth half beim Aufräumen, doch zog sie zum Schlafen schon zu ihrer Schwester, Frau Hilleke, die am Rande des Dorfes wohnte. Karl hatte sich selbstverständlich bei den Rettungsaktionen eingeschaltet.
Der Abend versammelte die Übriggebliebenen des Hauses Lennestraße 4 in der Waschküche, dem einzigen Raum im Hause, der ordentlich geblieben war und abgedunkelt werden konnte. Dort saßen Frau Scharfenkamp, Fräulein Dirksen, Elisabeth und ich beim Schein einer Petroleumlampe und einer Flasche Wein als Tröster und warteten auf die Rückkehr von Karl, der gegen 11 Uhr mit Josef Wächter kam.
Letzterer war aus einem Volkssturm-Ausbildungskurs aus Olpe herbeigeeilt, um nach den Seinen und seinem Eigentum zu schauen. Frau und Tochter wusste er nun gesund, doch hatte ein Bekannter, den er mit Familie bei sich aufgenommen hatte, vor seinem Hause den Tod gefunden. Man fand ihn erst spät am Abend. Sein Heim und Geschäft war durch den Angriff schwer mitgenommen worden. Es war - bis auf die Kellerräume - unbewohnbar geworden.
Das Leben im Dorf bekam nun langsam ein ganz anderes Gesicht. Nachdem die notwendigsten Aufräumungsarbeiten geleistet waren, zeigte das Innendorf nur noch in den Morgenstunden Regsamkeit. Einkäufe, Besorgungen, alles wurde in ihnen erledigt, gegen 9 Uhr oder 10 Uhr des Morgens wurde es dann still.
Viele Familien zogen zu Verwandten oder Bekannten in die Umgebung Altenhundems. Oft blieb nur einer im Hause zurück. Manche Häuser standen auch ganz leer. Andere Einwohner verließen tagsüber den Ort, gingen in die Bunker beim Kino oder nach Meggen, bauten sich Hütten in den Bergschluchten und verbrachten hier ihre Tage. Da in jenen März- und Apriltagen warmes, sonniges Wetter herrschte, war das Aus-dem-Hause-Sein gut und angenehm. Das Innendorf selbst war tagsüber zu einem Gespensterdorf geworden, das noch unheimlicher wurde, wenn man vom Fenster aus als einziges Leben die russischen Fremdarbeiter in ihren alten eintönigen Kleidern mit müdem und stumpfem Gesichtsausdruck zwischen den Trümmern nach etwas Brauchbarem suchen sah.
Einige Tage nach diesem zweiten Angriff zogen Dirksens nach Langenei. Ich selbst ging nach Totenohl, schweren Herzens. Karl Wiethoff blieb allein zurück. Eine Ausweichmöglichkeit für ganz schlimme Tage schaffte er sich in der Vogelwarte. Dort richtete er sich notdürftig einen Raum her, wo er gelegentlich auch schlafen und kochen konnte. Im Übrigen war er in der Lennestraße oder seinem elterlichen Hause im Schlamm, das Fahrrad stets griffbereit, um bei Luftgefahr auf ihm entweichen zu können. Jeden zweiten Tag etwa kam ihm eine kleine Hilfe im Haushalt durch Magda, Elisabeth, die inzwischen zu den Ihren nach Hundesossen gezogen war, oder mich.
Diese Wochen, die nur den Zweck hatten, das Eigentum möglichst zu erhalten und zu schützen, entbehrten jeder Gemütlich- und Bequemlichkeit. Außer den nackten Möbeln und den notwendigsten Sachen befand sich nichts mehr in der Wohnung.
Alles, was Wert hatte und leicht transportiert werden konnte, wie Wäsche, Garderobe, Porzellan stand in Truhen und Reisekörben im Keller, manche Gebrauchssachen wurden auch nach Totenohl geschafft. Später wurde auf ausdrücklichen Wunsch von Magda ein kleiner Teil der Möbel auf der Störmecke in Sicherheit gebracht. Elektrisches Licht gab's seit dem zweiten Angriff nicht mehr. Geleuchtet wurde abends wieder mit einer alten Petroleumlampe, Kerzen waren wegen des großen Verschleißes in den Luftschutzräumen inzwischen eine Seltenheit geworden. Jeder, der noch ein Stück von ihr besaß, hielt es gut verwahrt für die dringendsten der Fälle. Das schöne elektrische Kochen war in dieser Zeit auch zu einer Illusion geworden, und der Herd konnte nur mit wohlgekonnten Tricks in Brand gesetzt werden. Die Fenster ohne Scheiben waren mit Decken oder Papier behängt, um sie lichtsicher zu machen. Auch die Löcher in den Wänden wurden mit Teppichstücken und Decken abgedichtet. Es war kein gutes Leben mehr in jenen Tagen, reichte es doch nur dazu, das nackte Leben zu erhalten und möglichst viel vom Hab und Gut in eine ruhigere Zukunft zu retten.
In jenen Märztagen fielen auch zwischen Meggen und Maumke auf der „Strüweke” ein großer Satz Bomben, ferner zwischen Altenhundem und Kirchhundem. Beide Würfe richteten abgesehen von einem Fall in Kirchhundem keinen größeren Schaden an Häusern an. Die erstgenannte Gruppe fiel auf Wiesen- und Feldgelände und richtete Verwüstungen auf dem Maumker Friedhof an, die zweite ließ große Zerstörungen im Walde oberhalb der nach Kirchhundem führenden Straße und in der Weiste zurück.
Lesen Sie den letzten Teil der Kriegserlebnisse in der Frühjahrsausgabe 2012 des Saalhauser Boten.