Gestern noch dort, gehörte Altenhundem heute für mich bereits der Vergangenheit an. Und ich sehe mich auf dem Bahnsteig in Kickenbach stehen und auf den Zug aus Altenhundem warten. Als einziger Fahrgast stehe ich da, bis der Zug laut bimmelnd mit Pfeifen und Zischen anhält und mich einsteigen lässt. Bis es jedoch soweit ist und der Zug noch nicht in der Ferne zu erkennen ist, hänge ich meinen Gedanken und noch mehr meinen sehr frischen Erinnerungen nach.
Noch vor einer Woche gaben wir uns um diese Tageszeit die größte Mühe, es unserem ständig kritisierenden und schikanierenden Chef Recht zu machen, unabhängig davon, ob die Arbeiten, die wir zu verrichten hatten, der Ausbildungsordnung, die es auch damals schon gab, entsprachen oder nicht.
So gehörte z.B. der Bau von Transportkisten für Gewindespindeln, die in der Firma hergestellt wurden, zu unseren Aufgaben. Dieses geschah in der Weise, dass der Chef alte oder neue Bretter und Dachlatten von irgendwo herbeikarrte und wir nun mit Hilfe von Hammer, Zange, Nägeln und Kreissäge Transportkisten je nach Größe und Bedarf zu zimmern hatten.
Gewindespindeln zu drehen und zu schneiden war eine in technischer Hinsicht durchaus anspruchsvolle Arbeit, die so etwas wie den Abschluss beim Erwerb der technischen Fertigkeiten in dem Beruf darstellte. Auch wir hätten einmal diese Fertigkeiten erwerben müssen, doch blieben uns stattdessen die Transportkisten. Doch nicht nur das. Zunächst mussten die fertigen Spindeln gut geölt und verpackt, d.h. transportsicher in den Kisten eingelagert werden.
Selbstverständlich gehörte der Transport zur Güterabfertigung am Bahnhof Altenhundem ebenfalls zu unseren Aufgaben. Wurde das Gewicht einer Kiste auf unter dreißig Kilogramm geschätzt, so hatte ein einzelner Lehrling die Kiste zu schultern und diese die knapp zwei Kilometer zum Bahnhof zu schleppen. War die Kiste schwerer und auch in der Regel länger, so durften zwei Lehrlinge die Last schultern. Der eine ging vorne und der andere hinten. Das Auto des Chefs mit Anhänger stand derweil ungenutzt vor der Fabrik. Und mussten wir unterwegs einmal eine Zwangspause einlegen, weil es einfach nicht mehr weiterging, so konnte es passieren, dass – wie ich es selbst erlebt habe – plötzlich der Chef neben uns mit seinem Auto anhielt, ausstieg und uns kurz und knapp mitteilte: „Heute eine halbe Stunde länger!”
Andererseits war es für ihn selbstverständlich, dass wir in den Sommermonaten, wenn wir mit dem Fahrrad nach Altenhundem fuhren, morgens eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn um 7.00 Uhr bei ihm zu Hause den Fabrikschlüssel abzuholen hatten. Sein Haus lag am Klosterweg an einem Hang, sodass wir auf der Hinfahrt einen Teil des Weges das Rad schieben mussten.
Vorbei, Gott sei Dank, vorbei! Und während ich auf den Zug warte, sehe ich, wie die Bahngleise das gleißende Licht der Sonne reflektieren. Dieses Strahlen der Gleise lenkt meine Gedanken noch weiter zurück an den Anfang meiner Ausbildung bei der Firma Michel und an die erste nachhaltige Begegnung dieser Art mit meinem neuen Chef.
Wir kamen erstmals mit einem uns bis dahin unbekannten Messwerkzeug – mit einer Schieb-oder auch Schiebelehre – in Berührung. Das gewünschte Messergebnis war am sogenannten „Nonius” abzulesen, einer Feineinteilung von neun Einheiten ( none = neun ) auf dem beweglichen Teil der Schieblehre gegenüber der Millimetereinteilung auf dem Messstab. Auf diese Weise ließen sich Messergebnisse mit Dezimalstellen hinter dem Komma ermitteln. Um diese ablesen zu können, brauchte man allerdings gute Augen. Spätestens hier musste ich zu meinem Leidwesen erkennen, dass meine Sehfähigkeit nicht ausreichte. Ich konnte die Feineinteilung des Nonius nicht erkennen.
Mir war wohl bekannt, dass ich auch schon in der Schule in Saalhausen nicht so gut sehen konnte wie meine Mitschüler. Aus diesem Grunde versuchte ich, mir immer einen der vorderen Plätze in der Klasse zu sichern, um besser von der Tafel abschreiben oder lesen zu können. Bei einem „Wissensengpass” war es mir unmöglich, bei meinem Nachbarn zur Rechten oder zur Linken nötigenfalls eine „Anleihe” zu machen. Ich war wirklich gezwungen, mir all das einzuprägen, was sich andere Mitschüler mit flinken Augen schneller und einfacher beschaffen konnten.
Bei meinen mühevollen Versuchen in Altenhundem nun, die Schieblehre durch Drehen und Wenden und einen besseren Lichteinfall entziffern zu können, wurde ich von meinem neuen Chef beobachtet. Seine erste Bemerkung lautete: „Wie kann man nur so dämlich sein. Du bist ja zu blöd, eine einfache Schieblehre abzulesen.” Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich das nicht sehen könne. Doch für ihn war das nur eine faule Ausrede, um meine Blödheit zu verbergen. Ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken, denn meine Mitlehrlinge bekamen alles mit. Doch diese zeigten sich ebenso schockiert wie ich.
Unser Meister, ein sehr religiöser Mann, der den Zeugen Jehovas angehörte, hatte alles aus der Ferne beobachtet. Er kam sofort zu mir, ließ sich alles erklären, und riet mir, umgehend einen Augenarzt aufzusuchen. In Altenhundem gäbe es einen guten Arzt.
Ich folgte augenblicklich seinem Rat und suchte diesen Arzt auf. Er untersuchte meine Augen sehr gründlich, soweit ich das überhaupt beurteilen konnte. Dabei träufelte er mir Tropfen in die Augen mit der Bemerkung, dieses sei notwendig, damit er die Augen besser untersuchen könne. Am Ende erklärte er mir, ich hätte eine sehr starke Hornhautverkrümmung, ich müsse unbedingt eine Brille tragen. Er verschrieb mir die passenden Gläser und entließ mich.
Doch für mich begann jetzt ein Abenteuer, mit dem ich in keiner Weise hätte rechnen können. Bereits im Behandlungszimmer musste ich erleben, dass um mich herum alles immer verschwommener wurde. Als ich jedoch das Haus verließ und in die Sonne trat, schlug mir das Sonnenlicht derartig grell und schmerzhaft in die Augen, dass ich schlagartig geblendet war. Die Helligkeit war so unerträglich, dass ich mir mit beiden Händen die Augen zuhielt und mich gegen die dunkle Hauswand wandte.
Nach einiger Zeit, machte ich den Versuch, vorsichtig durch die Finger zu blinzeln. Es war nicht mehr ganz so schlimm. Ich konnte in dem Strahlenmeer, das mich umgab, schemenhaft Autos und Menschen erkennen. Am deutlichsten aber die blitzenden Stoßstangen der Autos, deren Strahlen mir wieder in die Augen stachen.
Es half alles nichts, ich musste nach Saalhausen. Mein Fahrrad an der Hauswand konnte ich mehr ertasten als erkennen. Ich ergriff es, stieg auf und fuhr los. Dabei bestand meine größte Sorge darin, mitten auf die Fahrbahn zu geraten und vielleicht von einem Auto erfasst zu werden. Andererseits war es ebenso gefährlich, rechts von der Straße abzukommen, um dann irgendwo im Straßengraben zu landen. Beide Seiten also konnten für mich zu einer Gefahr werden.
Da das Haus des Arztes aber unmittelbar am alten Bahnübergang am Ausgang Altenhundems, ungefähr dort, wo heute der Kreisverkehr eingerichtet ist, lag, kam mir etwas zu Hilfe, dass mich etwa ein Jahr später auf dem Bahnsteig in Kickenbach eben an diese doch sehr gefahrvolle Situation erinnerte.
Es waren die Bahngleise - . So wie diese in Kickenbach das Sonnenlicht reflektierten, geschah es auch bei meiner „Blindfahrt” nach Hause. Sie wurden für mich zu zwei wichtigen Führungsschienen, die mir durch ihr helles Strahlen zwar immer wieder schmerzhaft in die Augen stachen, mich aber andererseits durch den mir bekannten Abstand zur Straße in der richtigen Spur hielten, indem ich mich in der Mitte zwischen den Gleisen rechts und den mir entgegenkommenden Stoßstangen links zu halten versuchte. Und kam ich einmal vom asphaltierten Straßenbelag nach rechts ab, so hörte ich am Rollsplit, über den ich jetzt fuhr, wo ich mich befand.
So führten mich die Gleise von Altenhundem, vorbei am Bahnsteig Kickenbach mit einer kleinen Unterbrechung am Bahnhof Langenei bis zum Wechsel von der rechten auf die linke Straßenseite in der Kurve unterhalb von Gleierbrück. Da ich sehr langsam und nahezu tastend fuhr, dauerte es schon eine geraume Weile bis ich mich meinem Ziel näherte, so dass die Wirkung der Tropfen allmählich nachließ und ich, in Saalhausen angekommen, wieder mein Umfeld – wenn auch immer noch verschwommen – wahrnehmen konnte.
Mit der Brille selbst hatte ich zunächst einige Bedenken, denn zu der Zeit war man in einem Dorf wie Saalhausen schnell als Brillenschlange abqualifiziert. Doch aus dem Alter waren wir eigentlich schon heraus. Als ich die Brille dann bekam, sah ich die Welt plötzlich mit den sprichwörtlich „anderen Augen”.
Als ich die Brille zum ersten Mal in der Firma trug, kam der Chef von weitem angestürzt, um mir vermutlich wieder in seiner „feinfühligen” Art Befehle zu erteilen. Als er jedoch näher kam und wohl meine Brille erkannte, stutzte er plötzlich, blieb stehen, schaute mich groß an drehte nach rechts ab und verschwand ohne ein Wort in seinem Büro. Spätestens jetzt muss bei ihm wohl ein Denkprozess eingesetzt haben, denn er ist mir nie mehr, im Gegensatz zu den anderen Lehrlingen, in dieser rüden Art und Weise begegnet.
Wie schnell sich die Zeit bewegt und wie nahe die Ereignisse beieinander liegen können, obwohl ein halbes Jahrhundert dazwischen liegt, wird daran deutlich, dass die Firma Carl Zeiss in diesem Augenblick, in dem ich die Erlebnisse mit dem unsäglichen Firmenchef Michel und der Brille niederschreibe, Speziallinsen für mich anfertigt. Sie sollen mir im Zusammenhang mit einer Staroperation eingesetzt werden und die Hornhautverkrümmung ausgleichen. Zugleich sollen sie eine Brille überflüssig machen.
Wie ich viele Jahre später von einem Schulfreund und damaligen Leidensgenossen erfuhr, besuchte unser Chef während unserer Zeit wohl äußerst regelmäßig und äußerst intensiv die Gasthäuser in den umliegenden Ortschaften. Dieser Umstand und der Fabrikneubau, mit dem er sich offensichtlich übernommen hatte (s. oben), waren wohl Ursache dafür, dass er uns nicht nur einige Monate unseren Lehrlingslohn vorenthielt sondern auch schließlich in Konkurs ging.
Für uns Lehrlinge und somit auch für mich bedeutete das, dass wir uns um eine neue Lehrstelle bemühen mussten. Ob sich da die Industrie- und Handelskammer eingeschaltet hat oder andere Stellen, ich weiß es nicht. Jedenfalls wurde ich umgehend aufgefordert, mich bei der Firma Cordes in Kickenbach zu melden. Dieses geschah und ich wurde gleich eingestellt.
Und so stehe bzw. stand ich jetzt am frühen Nachmittag auf dem Bahnsteig. Der erste Arbeitstag bei der Firma Cordes, auch Kickenbacher Hammer genannt, lag hinter mir.
Was hatte sich für mich geändert? Die Berufsschule war geblieben. Nach einem Berufs-Grundschuljahr in Altenhundem mussten wir ab dem zweiten Lehrjahr, wie schon oben erwähnt, die für uns zuständige Fachklasse in der Berufsschule in Olpe besuchen. Die Fahrt dorthin war recht umständlich: Zunächst fuhren wir mit dem Zug oder Bus von Saalhausen bis Altenhundem. Dort bestiegen wir den Zug nach Hagen. Bereits in Finnentrop mussten wir den Zug wieder verlassen, um in den nächsten Zug bzw. Schienenbus nach Olpe umzusteigen.
Die später von mir als legendär empfundenen Fahrten durch das Biggetal führten uns von Finnentrop über Heggen, Attendorn, Listernohl, Kraghammer, Sondern, Eichhagen nach Olpe.
Was machte die Fahrt legendär? Im August 1956 trat das Biggetalsperrengesetz in Kraft. Demnach sollte in Listernohl ein riesiger Staudamm errichtet werden, um die Bigge aufzustauen. Die Bauarbeiten begannen noch im gleichen Jahr.
Wenn wir nun wöchentlich mit unserer Bahn genau durch das Gebiet der künftigen Talsperre fuhren und ganz oben im Gipfelbereich der umliegenden Berge die Markierungen sahen, die den geplanten Wasserstand anzeigten, dann setzte unsere Phantasie ein: Wie wird es einmal hier unten, wo wir uns jetzt noch befinden, aussehen, wenn alles unter Wasser liegt und sich das Wasser bis zu 50 Meter über uns aufgestaut hat? Was wird aus unserer Bahnstrecke, wie werden einmal die drei Ortschaften aussehen, die wir jetzt noch durchfahren?
Es war bekannt, dass die Orte Listernohl, Sondern und Eichhagen überflutet, an anderer Stelle neu gebaut und die Bewohner in die neuen Orte umgesiedelt werden sollten. Jetzt aber stand noch alles an Ort und Stelle und wir konnten die Biggetalbahn bis zum Ende unserer Berufsschulzeit 1955 ungehindert nutzen.
Umgekehrt stellten sich mir die gleichen Fragen, wenn ich Jahre später mit der Familie oder mit Schulklassen den Biggesee besuchte: Wie mag es jetzt da unten aussehen, in welchem Zustand mögen sich Bahn und die alten Dörfer befinden? Aus Listernohl war Neu-Listernohl und aus Sondern war Sondern-Hanemicke geworden. Das neue Eichhagen hatte seinen alten Namen unverändert behalten.
In der Berufsschule gab es das bekannte Klassenlehrersystem. Die Hauptfächer Fachkunde, Fachrechnen und Fachzeichnen lagen alle in der Hand des Klassenlehrers.
Unser Lehrer, Herr Hämmerling, litt an einer leichten Sprachblockade. Diese zeigte sich darin, dass er häufig mitten in einem mehrsilbigen Wort stockte, um einen erneuten Anlauf zu nehmen und das Wort zu Ende zu bringen. Die hierdurch entstehende Pause, versuchte er mit einem kurzen „ja” zu überbrücken. So hieß Herr Hämmerling bei uns folgerichtig Herr Hämmer-jaling. Ein Mitschüler machte sich einmal die Mühe alle „Ja‘s” innerhalb einer Stunde mitzuzählen. Er kam auf die stattliche Zahl von siebzig.
Solche Dinge geschahen liebevoll amüsiert, jedoch nie gehässig, denn wir mochten den Herrn Hämmer-jaling. Eine seiner sich ständig wiederholenden Mahnungen lautete: „ Immer dran denken! Eine Schieb-jalehre ist kein Hammer-jawerkzeug.” Nach dem Exkurs ins Biggetal wieder zurück ins Lennetal.
Die Firma Cordes bot im Vergleich zur Firma Michel ein völlig anderes Bild. Da war zunächst die Lage des Betriebes. Er lag ganz romantisch am Fuße eines Abhangs, direkt an der Lenne.
Doch entscheidender war für mich, was sich in dem Betrieb abspielte, wie und unter welchen Umständen gearbeitet wurde und wie die dort beschäftigten Menschen miteinander umgingen.
Wird fortgesetzt!