Zum Artikel Saalhauser Bote Nr. 38, 1/2016
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Wulwesort im Sauerland: (k)ein besonderer Ort?
von Ulrike Westerburg
Um Saalhausen herum führen viele, gut markierte Wanderwege den Erholungssuchenden in unberührte Naturlandschaften und in einsame Täler des Rothaargebirges. Wenn der Wanderer auf einem besonders erlebnisreichen Weg durch das tief eingeschnittene Uentroptal hinauf nach Jagdhaus gehen will, dann erblickt er plötzlich, nach ein paar Kilometern vom Talgrund der Lenne entfernt, in Rhododendronhecken und alten Bäumen versteckt, ein größeres Anwesen inmitten des Waldes. Ein Forsthaus? Ein Wochenendhaus? Der Blick in die einschlägige Literatur zeigt, dass alle diese Vermutungen zwar zutreffen, dass es jedoch noch viel mehr über diesen Ort zu berichten gibt, vor allem aber leider auch Tragisches, das sich hier vor 70 Jahren bei Kriegsende abgespielt hat.
Den Namen Wulwesort (damals „Wolffs orth”) findet man bereits auf einer Karte aus dem Jahr 1753, was darauf schließen lässt, dass es hier Wölfe gab. So soll Anfang des 19. Jahrhunderts hier noch ein Wolf erlegt worden sein.
Die eigentliche Geschichte dieses Weilers beginnt im Jahr 1904. Der in Düsseldorf geborene Königliche Rumänische General-Konsul Gustav Henry Müller (1865–1913), ein Reeder in Düsseldorf und Rotterdam, schreibt am 25. Januar 1904 an das Amt Schmallenberg, um den Jagdbezirk Fleckenberg zu pachten. Am 1. Februar 1904 erhält er vom Amt die Pachtgenehmigung und teilt im Juni 1904 dem Amt mit, dass er beabsichtige, in Wulwesort ein Jagdhaus zu errichten. Dem wird stattgegeben, so dass noch im selben Jahr das Jagdhaus und später dann ein Holzhaus in Wulwesort errichtet werden können. Anschließend erwirbt der Pächter umfangreichen Grundbesitz um sein Haus herum.
Nach dem Tod des General-Konsuls kauft im August 1913 ein Dr. Otto Goebel aus Duisburg-Ruhrort den Besitz, der ab 1920 in die neue Gemeinde Fleckenberg eingegliedert wird. 1923 baut der neue Besitzer Goebel ein festes Wohnhaus und erwirbt weiteren Grundbesitz. Vier Jahr später leben 13 Einwohner im Ort. Zu dem Gut gehören 1931 rund 290 ha Grundbesitz. Von 1915 bis 1975 hat das Gut einen eigenen Förster. Bis 1965 führt die Familie Goebel auch einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb. Seit dem 1. Januar 1975 ist Wulwesort aufgrund der kommunalen Neugliederung ein Ortsteil der Stadt Schmallenberg.
Das zuvor angedeutete tragische Ereignis bei Kriegsende 1945 wird bei „Wikipedia” im Artikel über Wulwesort wie folgt beschrieben: „...Im Zweiten Weltkrieg wurde Wulwesort bekannt, weil dort am 20. April 1945... der befehlsführende General der Infanterie Joachim von Kortzfleisch von einer US-Patrouille erschossen wurde...”
Diese Eintragung in „Wikipedia” überrascht, denn man fragt sich unwillkürlich, was sich hinter dieser Aussage verbergen könnte: Ein General? Erschossen? Und warum? In dieser Abgeschiedenheit? Wer wusste davon? Wer war denn überhaupt dieser General, welche Rolle hat er gespielt, warum wurde er erschossen, oder war es am Ende vielleicht doch Selbstmord, wie ihn sein Vorgesetzter, Generalfeldmarschall Walter Model, nach der „schmachvollen” Einnahme des Ruhrkessels am 21.4. 1945 in Lintorf bei Ratingen verübte?
Um diese Fragen zu klären, muss man sich die letzten Kriegsmonate 1945 ins Gedächtnis rufen. Beide hier genannten Militärs gehörten der Heeresgruppe B an, welche mit der Verteidigung des Rheins beauftragt worden war. Bekanntlich überquerten US-Truppen am 7. März 1945 die bis dato völlig intakte Brücke von Remagen, deren Sprengung durch die Wehrmacht fehlgeschlagen war. Bei einer internen Untersuchung der Heeresgruppe B am 10.3.1945 zur „Schweinerei von Remagen”, wie man in Berlin diese Angelegenheit nannte, gelang es von Kortzfleisch und der übrigen hohen Generalität erfolgreich, alle Schuld daran auf die Untergebenen der Majorsebene abzuwälzen. Vier von ihnen wurden von einem „Fliegenden Standgericht” innerhalb weniger Stunden wegen angeblicher Befehlsverweigerung am 13./14.3.1945 im Westerwald standrechtlich erschossen.
Mit der Einnahme des rechten Rheinufers stießen die Amerikaner ab Mitte März weiter nach Osten vor und erreichten ab Anfang April auch das südliche Sauerland. Damit war der "Sack", also der Ruhrkessel, zu, denn bereits am 1.4.1945 war Lippstadt von zwei zusammentreffenden amerikanischen Armeen erobert worden. Model hatte zwar noch die Selbstauflösung der Heeresgruppe B im Ruhrgebiet befohlen, aber die endgültige Niederlage war schon längst besiegelt und über 325.000 Soldaten – mehr als in Stalingrad – wurden zu Kriegsgefangenen. Statt einer "bedingungsglosen Kapitulation" zuzustimmen, so wie sie dann am 8.5. 1945 erfolgen sollte, beging Model, wie schon erwähnt, Selbstmord.
Ganz anders sein „Kriegskamerad” von Kortzfleisch: Für ihn als überzeugten Nazi gab es nur eins: Sieg oder Niederlage im Kampf- und zwar bis zuletzt.
Joachim von Kortzfleisch, geboren 1890 in Braunschweig, entstammte dem westfälischen Adelsgeschlecht Kortzfleisch und war der Sohn des preußischen Generalmajors Gustav von Kortzfleisch (1854–1910). Er heiratete 1923 Edelgard von Saucken in Ostpreußen. 1929 wurde Sohn Siegfried geboren, der bekannte spätere Theologe und Publizist, der 2014 starb.
Von Kortzfleisch nahm als junger Offizier am Ersten Weltkrieg teil und wurde später in die Reichswehr übernommen. Ab 1939 nahm er als Generalmajor am „Polenfeldzug” teil und ab 1940 als Generalleutnant am Westfeldzug. Dabei wurde er mehrfach ausgezeichnet. Im März 1943 wurde Kortzfleisch zum Befehlshaber im Wehrkreis III in Berlin ernannt. Als solcher kam er direkt mit den Ereignissen des 20. Juli 1944 in Berührung. Bemerkenswert dabei ist, dass von Kortzfleisch ein angeheirateter Schwager von Stauffenbergs Cousine Olga von Uexküll (verheiratet mit Fredy von Saucken) war. Dadurch waren ihm nicht weniger als fünf Widerstandskämpfer persönlich bekannt.
In der Bendlerstraße verweigerte er am Nachmittag des 20. Juli überraschend die Walküre-Befehle für den Wehrkreis zum Widerstand und wurde daraufhin von den „Putschisten” festgenommen. Einem „Putsch”, erklärte er ihnen, fühle er sich nicht gewachsen. Er habe jetzt „...nur noch ein Interesse: nach Hause zu gehen und in meinem Garten Unkraut zu jäten” . Noch vor dem Verlassen des Bendlerblocks wurde er erstaunlicherweise wieder rehabilitiert, denn das Attentat auf Hitler war gescheitert und damit auch die Umsturzpläne. In den folgenden Stunden unternahm er jedoch nichts, was seinen kurzzeitigen „Stellvertreter”, Generalleutnant Karl von Thüngen, oder seinen Untergebenen, Major von Oertzen, hätte entlasten können. Von Oertzen endete in der Nacht durch Selbstmord und von Thüngen wurde durch einen Urteilsspruch des Volksgerichtshofs am 24.10.1944 hingerichtet, wie viele andere auch, die am Attentat vom 20. Juli 1944 nur mittelbar beteiligt waren. (Im Zuchthaus Brandenburg-Görden wurden zwischen 1940 und 1945 durch die NS-Justiz rund 2000 Menschen hingerichtet.) Auf die Nachricht vom Selbstmord von von Oertzen soll er ganz kühl bemerkt haben, dass dieser „wenigstens anständig” gestorben sei.
Seine ‚Standfestigkeit’ brachte ihm höchstes Lob von Goebbels ein, denn er habe sich in dieser Angelegenheit „hervorragend” benommen. Die Genugtuung über seine ihm als Anerkennung zugewiesene Kommandozentrale in Schloss Schönstein bei Wissen währte jedoch nur ein paar Wochen, denn die US-Truppen folgten von Kortzfleisch unmittelbar auf ihrem Vormarsch durch den Westerwald in Richtung Sauerland. Unterdessen marschierte Model nordwärts den Rhein entlang ins westliche Ruhrgebiet, wo er eine Niederlage nach der anderen hinnehmen musste. Nach Models viel zu spät erfolgtem Auflösungsbefehl und der endgültigen Einschnürung des Ruhrkessels infolge der Einschließung der Heeresgruppe B bei Lippstadt am 1.4.1945 flüchtete von Kortzfleisch vor den Alliierten Truppen nun entlang der Ruhr in Richtung Eslohe. Am 16. April kapitulierten dann auch die letzten deutschen Truppen bei Iserlohn, am 17. April die im westlichen Teil des Ruhrkessels bei Duisburg, was den endgültigen Zusammenbruch der deutschen Verteidigungslinien bewirkte. Damit waren nun 325.000 deutsche Soldaten und rund fünf Millionen Zivilisten „eingekesselt”.
Auf der Flucht vor den von Nordosten – und nicht von Westen ! - nachrückenden Alliierten lieferte sich von Kortzfleisch mit dem Rest seiner Soldaten und paramilitärischen Einheiten der NSDAP, mit Volkssturmmännern und dem Freikorps Sauerland, im Raum Schmallenberg verlustreiche, und letztlich unnötige Gefechte.
In dieser aussichtslosen Lage will sich sein Trupp nun, der Darstellung von Ulrich Saft zufolge, mit zwei Offizieren und sechs Soldaten nach Berleburg zu einer ihm bekannten Schlossherrin durchschlagen. In der Nacht vom 19. auf den 20. April bittet er dann in Wulwesort um ein Nachtlager, um dort völlig erschöpft erst einmal zu schlafen. Am nächsten Tag, am Vormittag des 20. April (!), überschlagen sich dann die Ereignisse, deren Darstellung sich mitunter im Legendenhaften ergeht:
Drei Spähwagen rollen auf das Gut, gefolgt von drei Panzern nebst Infanterie. Man beginnt nun sofort das Forsthaus zu umstellen. Die Deutschen stürmen in zwei verschiedenen Richtungen ins Freie, der General mit einem Feldwebel und einem 18jährigen Infanteristen in Richtung Hof. Die Spähwagen beginnen zu feuern, ein Feldwebel bricht schwerverletzt zusammen, den Infanteristen erwischt es am Parkzaun, er wird tödlich getroffen, bevor er den Zaun überwinden kann. Der General schlägt sich hinter einer Buschgruppe in Deckung und erwidert das Feuer mit seiner MP, ein US-Soldat stirbt dabei. Als die GI’s die Buschgruppe umstellen, kommt das obligatorische "Hands up" , was der General angeblich mit "Nie!" erwidert. Daraufhin wird das Feuer erneut eröffnet, der General wird tödlich getroffen. Sein Leichnam wird nach einer Weile abtransportiert, wohin, wird nicht berichtet. Damit ist auch Wulwesort in alliierter Hand, so wie zuvor Fleckenberg und Saalhausen am 9.4., und Schmallenberg am 10.4.
In einer anderen Darstellung liegt der General in voller Montur, aber mit Pantoffeln an den Füßen, morgens auf der Terrasse und genießt die Frühlingssonne, als er von einem Aufklärungsflug entdeckt und wenig später in der bereits beschriebenen Weise aufgestöbert und letzten Endes erschossen wird.
Im „Lexikon der Wehrmacht” findet sich unter dem Stichwort ‚von Kortzfleisch’ eine weitere Version: Dort heißt es: „Am 20. April 1945 ist er im Ruhrkessel gefallen. Er wurde dabei durch US-Truppen erschossen.” Diese Darstellung ist falsch, denn erstens wird der Ruhrkessel bereits am 17.4.1945 von den Amerikanern eingenommen, was das Ende des Krieges zwischen Rhein, Ruhr und Weser markiert. Und zweitens wird der General nicht „einfach erschossen”, sondern er wehrt sich bis zuletzt mit seiner Waffe gegen seine Verhaftung, anstatt sich zu ergeben.
Einem anderen Autor kommt das Ende des Generals sogar "mysteriös" vor, denn von Kortzfleisch werde "..von Soldaten des Aufklärungszuges des 737. Panzerbataillons der 5. US-Infanteriedivision .... rücksichtslos erschossen. Die Einschüsse in der Mauer sind heute noch zu sehen." Es fragt sich, wessen Verhalten "rücksichtslos" war!
Die Familie Goebel als Augenzeuge kann auch nichts „Mysteriöses” vermelden. Ihrer Aussage zufolge stehe zweifelsfrei fest, wer hier Angreifer und wer Verteidiger war. Dies geben sie so auch später zu Protokoll.
Der amerikanische Militär-Chronisten Donald Thackeray, der offensichtlich auch unmittelbarer Augenzeuge war, schildert die Sachlage naturgemäß viel nüchterner.
Er betont, dass seine Kameraden den Eindruck hatten, als ob sich in dem Haus ein Widerstandsnest befunden hätte, das man nur mit Waffengewalt hätte unschädlich machen können. Dass der Offizier, der sich hinter einem Holzstoß, um sich schießend, versteckte, weil er sich nicht ergeben wollte, als der Stellvertreter von Feldmarschall Model identifiziert wurde, sei den Amerikanern erst in dem Moment bewusst gewesen, als er erschossen vor ihnen lag. Hätten sie sonst anders reagiert? Wohl kaum, denn angesichts dieses, bis zuletzt fanatischen Nazis, der mit einem „Heil Hitler” auf den Lippen starb, blieb ihnen keine andere Wahl. Ob er durch sein plötzliches Hervortreten hinter dem Holzstoß die Amerikaner ablenken und so einigen seiner Kameraden die Flucht ermöglichen wollte, könnte man vielleicht noch als „Heldentat” ansehen, aber eine derartige Überlegung ist angesichts der vorhergehenden Ereignisse unangebracht.
Derartige Heldentaten, die beizeiten Leben hätten retten können, wären wesentlich früher nötig gewesen. Aber dazu war dieser verblendete General ja nicht fähig gewesen.
Damit ist er ein warnendes Beispiel dafür, wohin blinder Gehorsam, gepaart mit Fanatismus, einen Menschen, ja ein ganzes Volk, führen kann.
Für den amerikanischen Chronisten steht jedenfalls abschließend fest:
Von Kortzfleischs Leichnam wurde nach ein paar Stunden, nachdem den Amerikanern die Situation als militärisch „bereinigt” schien, auf dem ab April 1945 von ihnen eigens angelegten Soldaten-Sammelfriedhof bei Breuna in der Nähe von Kassel beerdigt.
___________
1 Der letzte Wolf wurde übrigens laut Zeitungsberichten am 3.12.1811 in den Fleckenberger Wäldern erlegt. In einer anderen Aufzeichnung befindet sich der Hinweis, dass der letzte Wolf 1848 bei Berleburg geschossen wurde. Angabe in : www.Schmallenberger-Sauerland.de
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Wulwesort
3 Nähere Angaben finden sich hierzu in einem demnächst erscheinenden Beitrag der Vf'in in SüdWestfalen Archiv 15/2015
4 Dass auch Sohn Siegfried Theologie studiert hat, quasi um für die Sünden der Väter zu büßen, ist ein bekanntes Phänomen. Er beschreibt seine Motivation im "Allgem. Dt. Sonntagsblatt" vom 15.7.1994, ähnlich der ehemalige EKD-Vorsitzenden Wolfgang Huber
5 Spiegel 29/2004, S. 44
6 Wiegel, S. 81
7 Spiegel, 29/2004, S. 41ff
8 v. Kortzfleischs Kommentar: Der Major sei immerhin "anständig" gestorben, so zitiert Wiegel, S. 81, den Autor Peter Hoffmann: Widerstand, Staatsstreich, Attentat, München 1985, S. 630
9 Wiegel, S. 81
10 wie Nr. 3
11 Kershaw, S. 413ff, bes. S. 422
12 Dominik Reinle, 70 Jahre Kriegsende im Westen; in: Politik –WDR.de, 20015
13 Ulrich Saft, Krieg in der Heimat- Das bittere Ende im Harz, S. 353ff
14 Heribert Gastreich, in: Saalhauser Bote 17,2, 2005
15 zu finden unter dem Stichwort 'v. Kotzfleisch' im "Panzer-Archiv"(de.)
16 Sondermann, S. 45/46
17 Diese Protokolle befinden sich im Stadtarchiv Schmallenberg. Dank an Dr. Schulte für die Auskünfte!
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