Zum Artikel Saalhauser Bote Nr. 23, 2/2008
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Inhalt
Vor
Biu schoin is et dann, en Duarpkind te seyn Kindheitserinnerungen und mehr...!
Fortsetzung
Von Friedrich Bischoff
„Kommst du wohl da runter und geh sofort von den Leitungen weg!”
Ich schaute ganz erschrocken und peinlich berührt nach unten und sah dort Müllers Kurt, unseren neuen Hausherrn, stehen. So hatte ich ihn noch nicht kennen gelernt und so hatte mich auch noch niemand angeschrien. Sicher, es herrschte damals ein anderer Umgangston als heute. Damals wurde eher dort kommandiert, wo heute endlos diskutiert wird.
Ich dachte mir schon, dass ich hier auf dem Dach nichts zu suchen hatte, aber so schlimm konnte das doch auch nicht sein. Als ich dann aber sah, wie Müllers Kurt mit hochrotem Gesicht zu mir hoch schaute und mir wild gestikulierend und immer aufgeregter zu verstehen gab, sofort herunter zu kommen, bekam ich es doch mit der Angst zu tun.
Was war geschehen? Wie schon erwähnt, hatte der damalige Bürgermeister Brüggemann uns an Stelle der Wohnung auf Heers Scheune, die uns während des Krieges als Not- und Übergangswohnung zugeteilt worden war, nun einige Zeit nach Kriegsende eine größere Wohnung bei Müllers Kurt verschafft. Hier war nicht nur die Wohnung größer. Nein, hier gab es noch den Hof und damit für uns Kinder unendliche Spielmöglichkeiten.
Und da der Forscherdrang eine der urmenschlichsten Eigenschaften ist, so trieb es auch mich, all die neuen Möglichkeiten auf dem Hofe kennen zu lernen und zu erforschen.
So hatte ich einen Weg gefunden, auf das Dach des Anbaus zu gelangen. Dieser Weg führte über die hintere Treppe des Hauses. Oben, am Ende der Treppe, befand sich ein Fenster und durch dieses Fenster konnte man auf das Dach klettern.
Diesen Weg hatte ich zum ersten Mal ausprobiert und so stand ich stolz auf dem Flachdach und versuchte, eine der beiden Stromleitungen, an die ich ohne Schwierigkeiten heran reichte, zum Schwingen zu bringen.
Einerseits mit der Angst, doch etwas Böses getan zu haben, andererseits verletzt und beleidigt, so angeschrien zu werden, machte ich mich auf den Weg nach unten.
Hier empfing mich Müllers Kurt sichtlich erleichtert. „Junge, das ist ja noch mal eben gut gegangen. Du hättest tot sein können. Geh nie mehr wieder auf das Dach!” So ließ er mich ängstlich und verwirrt stehen. Stimmte das wirklich?
Da man solche „Heldentaten” nicht bei jeder Gelegenheit ausplaudert, behielt auch ich sie für mich und sprach mit niemandem darüber. Erst später, als ich die Wirkungsweise des Stromes, Plus- und Minuspole und vor allem das Entstehen eines Stromschlages als eine lebensgefährliche Sache kennen lernte, begriff ich die Gefährlichkeit meines Spiels auf dem Dach.
Jetzt war ich mir sicher: Müllers Kurt hatte mich wahrscheinlich vor dem Schlimmsten bewahrt.
So war er eben, Müllers Kurt – wir nannten ihn selbstverständlich Herr Müller – und so habe ich ihn bis heute in Erinnerung: Nicht sehr groß und von einer stillen Zurückhaltung. Er sprach nicht viel,
aber wenn es darauf ankam, packte er zu.
Diese eine Episode, so gefährlich sie auch gewesen sein mag, war keineswegs symptomatisch für die Zeit, die jetzt nach dem Krieg anbrach. Sicher, es herrschte immer noch Not und Mangel an allen nur erdenklichen Dingen. Aber die Angst vor dem Krieg und damit vor der Zukunft war nicht mehr vorhanden. So begannen die Menschen, sich neu zu orientieren und ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen und neu zu ordnen.
Dieses zeigte sich nicht zuletzt darin, dass wir jetzt, da die Züge wieder fuhren und keine Luftangriffe mehr zu befürchten waren, wiederholt von unserer Verwandtschaft aus Bochum besucht wurden. Verpflegung und andere notwendige Dinge wurden mitgebracht, da an eine ordentliche Bewirtung nicht zu denken war. Es galt eben noch in besonderer Weise der Grundsatz: Zusammenwerfen und Teilen.
Bei meinem Bruder und mir löste es immer eine besondere Freude aus, wenn es hieß, Onkel oder Tante oder wer auch immer kommt zu Besuch. Da wir selbst schon sechs Personen waren, kam es jedes Mal bei den Schlafplätzen zu einem Engpass. Aber auch damit wurden wir fertig.
Mit Erlaubnis der Familie Müller, geschah dann abends das, worauf wir uns schon tagelang gefreut hatten, wir zogen nach oben ins Heu. Das war für uns jedes Mal ein Fest, besonders wenn auch noch Vettern und Cousinen dabei waren. Bevor es ans Schlafen ging, gruben wir uns erst einmal unsere Höhlen und Nester. Ruhig wurde es erst, wenn das Licht ausgeschaltet wurde. Dann war es so dunkel, dass wir absolut nichts mehr sehen konnten. Man hörte nur noch das Knistern des Heus, wenn sich jemand bewegte oder wenn weit hinten Mäuse raschelten. Und der unbeschreibliche Duft, den das frische Heu ausströmte, ließ uns dann ruhig und tief schlafen.
Vollkommen wurde dieser als paradiesisch empfundene Zustand für uns Kinder, wenn wir morgens durch das Zwitschern der Schwalben geweckt wurden. Auf dem Rücken liegend konnten wir in aller Ruhe beobachten, wie über uns die jungen Schwalben ihren Eltern die weit aufgerissenen Schnäbel entgegen streckten. Wir staunten immer wieder, mit welch einer Sicherheit diese ihr eigenes unter den zahlreichen Nestern anflogen, um ihre Jungen mit Futter zu versorgen. Die Nester befanden sich direkt in der Dachspitze und die Alten flogen durch einen offenen Durchlass im Giebel unermüdlich ein und aus. Wir verhielten uns ganz ruhig, um sie nicht zu stören.
Doch nicht immer stand der Heuboden zur Verfügung. In solchen Fällen bezogen wir den Dachboden des Anbaus hinten am Haus. Um dort hin zu gelangen, mussten wir vom Flur aus erst durch ein Zimmer, dass als Schlafraum für Joseph Christ diente. Dieser wohnte mit seiner Schwester ebenfalls im Haus.
Auf dem Dachboden des Anbaus, war es fast ebenso abenteuerlich wie auf dem Heuboden. Es fehlten hier nur die gewaltigen Heuberge, in die wir uns sonst immer verkriechen konnten. Stattdessen waren vorher je nach Bedarf Strohmatratzen gefüllt worden, die auf dem Bretterboden ausgelegt wurden und uns so als Lager dienten.
Wenn es abends auch hier stockdunkel wurde, erzählten wir uns noch gegenseitig Gruselgeschichten oder hingen still unseren Gedanken nach. Niemand konnte ahnen, dass wir hier in einem Raum schliefen, der viele Jahre später einmal ein beeindruckendes Zeugnis für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung des Dorfes werden sollte: die Josefa-Berens-Gedächtnisstube.
Wir kannten Josefa Berens als eine besondere Frau. Man sah sie nur selten auf der Straße. Wir grüßten sie zwar immer höflich, wenn wir ihr einmal begegneten, aber wir hätten nie gewagt, sie anzusprechen, obwohl sie uns doch immer wieder in der Vorweihnachtszeit so schöne Sagen und Märchen erzählte. Von ihrem Bekanntheitsgrad während des Krieges – ihre Bücher wurden in den Schulen als Pflichtlektüre gelesen – und ihrem Schicksal nach dem Kriege, hatten wir nicht die geringste Kenntnis.
Die Gedächtnisstube lernte ich erstmals kennen, als ich wieder einmal Saalhausen besuchte. Ich bemerkte sofort die Veränderungen an Müllers Haus. An der Stelle, an der sich früher die Miste befand, stand jetzt eine Garage und daneben eine Touristen-Information mit Leseraum. Neugierig betrat ich die Information. Rechter Hand führte eine Treppe nach oben. Ich ging hinauf und stand plötzlich gebannt in einem Raum, den ich so nicht erwartet hatte. Wie von selbst ging mein Blick nach oben rechts an die Decke und in die Ecken und Winkel, um die Schwalbennester zu suchen.
Die Decke verkleidete das Dach, auf dem ich einmal stand, die Stromleitung zum Schwingen zu bringen versuchte und von dem mich Müllers Kurt herunter gescheucht hatte. An den Wänden gab es keinen Staub und in den Ecken keine Spinnweben. Auf dem Boden fehlte das Stroh und die Schwalbennester fehlten ebenso. Das war also mein ehemaliger Schlaf- und Übernachtungsraum, beeindruckend ausgebaut und mit vielen Exponaten aus dem Besitz von Josefa Berens ausgestattet.
Für mich wurde hier in besonderer Weise deutlich, welchen Entwicklungsgang das Dorf seit den Kriegsjahren genommen hatte.
Solche Erlebnisse in Heu und Stroh, die bei uns damals aus der Not geboren waren, versucht man heute zunehmend als Heubodenromantik oder Urlaub im Heu nachzustellen. Diese Inszenierungen werden dann möglichen Urlaubsgästen gegen gutes Geld angeboten. Auch hier haben sich die Zeiten geändert, nicht aber das Bemühen, auf welche Weise auch immer, seinen Lebensunterhalt zu sichern.
Auf Müllers Hof nahm das Leben weiterhin seinen Lauf. Wie schon erwähnt, wohnte Joseph Christ mit seiner Schwester Ottilie ebenfalls im Haus. Sie hatten als Ostvertriebene hier eine neue Bleibe gefunden. Da beide sehr fromm waren, nannten wir sie auch oft Maria und Josef.
Joseph, in meinen Augen ein Riese, war ein äußerst gutmütiger Mensch. Er war in handwerklichen Dingen sehr geschickt und verrichtete alle Arbeiten, die sich ihm boten. Für uns Kinder hatte er ein Herz und wir konnten uns unbesorgt immer dann an ihn wenden, wenn wir Hilfe brauchten. Weder an Sonn- noch an Werktagen versäumte er es, die heilige Messe zu besuchen. Ich sehe ihn noch heute, wie er tief im Gebet versunken in der Kirche vorne rechts im Seitenschiff kniete.
Joseph wohnte mit seiner Schwester in einem Zimmer Wand an Wand mit uns. Eines Nachmittags, ich hielt mich im Dorf auf, wurde ich nach Hause gerufen. Meine Mutter führte mich mit ernstem Gesicht zum Zimmer der Geschwister. Als ich die Tür öffnete, sah ich das Fenster gegenüber abgedunkelt. Am Fußende des Bettes, das links an der Wand stand und von der geöffneten Tür halb verdeckt wurde, standen zwei brennende Kerzen. Hinter den Kerzen, um das Fußende herum, standen einige schwarz gekleidete Frauen, die ich aus dem Dorf kannte. Als ich die Tür schloss, konnte ich Fräulein Christ, wie wir sie nannten, im Bett liegen sehen. Sie schien zu schlafen. Doch auf meinen fragenden Blick hin erklärte man mir, sie sei tot, sie sei eben gestorben und Pfarrer Piel wäre auch schon da gewesen.
Die Begegnung mit dem Tod hatte für mich und viele in meinem Alter durch die Kriegserlebnisse seinen Schrecken verloren. Die Erinnerung an sie jedoch war noch sehr frisch. So habe ich heute noch das Bild vor Augen, als ich als Fünf-Jähriger nach einem Bombenangriff beim Verlassen des Bunkers über viele Tote steigen
musste, die keinen Einlass mehr in den Bunker gefunden hatten. Auch den Mann, der mit verrenkten Gliedern vor der Bunkertür lag und dem ich in der Dunkelheit beinahe ins Gesicht getreten hätte, wäre ich nicht von meiner Mutter rechtzeitig am Arm hochgerissen worden, sehe ich noch. Ebenso den Soldaten auf Flurschütz Wiese, der mit einem blutigen Lappen im Mund dort lag. Gemessen daran war das hier ein schöner Tod, eingetreten in ein Leben, das von einem tiefen Glauben geprägt war.
Wir knieten uns alle um das Bett. Eine Frau betete die Sterbegebete aus dem Sursum corda vor und wir beteten im Wechsel nach. Da das Zimmer zu klein war, trugen wir die Tote später am Abend nach unten in den Vorbau. Genau an der Stelle, wo später der Touristikschalter lag, wurde sie aufgebahrt.
Einer meiner besten Freunde auf dem Hof darf nicht unerwähnt bleiben. Immer dann, wenn ich aus der Schule kam und das Tor zum Hof öffnete, kam er aus irgendeinem Winkel angerast und sprang mich freudig bellend an. Es war Harras, der Hofhund, der mich so auf seine Weise begrüßte.
Da ich mal eben die mittlere Größe eines durchschnittlichen Schulkindes aufwies, befand sich Harras auf gleicher Augenhöhe mit mir, wenn er sich aufrichtete und mir die Pfoten auf die Schultern legte.
Anfangs war es ihm tatsächlich gelungen, mich bei seiner stürmischen Begrüßung umzurennen. Das gelang ihm aber nur anfangs. Denn jetzt fasste ich immer rechzeitig festen Fuß. Und wenn er allzu stürmisch wurde, umschlang ich ihn einfach in der Mitte und hob ihn hoch. Dann zappelte er hilflos mit allen Vieren in der Luft und begann um Gnade zu winseln. Einen anderen Trick wandte ich immer dann an, wenn er nicht aufgeben wollte. Dann schob ich ihm ganz einfach einen passenden Stock, den ich immer zur Verfügung hatte. quer ins weit geöffnete Maul bis ganz hinten in die Lefzen. Dann war er völlig hilflos, versuchte sich krampfhaft zu befreien und ließ so von mir ab. Am liebsten wälzte er sich mit mir am Boden, was meine Mutter nicht unbedingt freudig stimmte, wenn sie am Abend den Zustand meiner Kleidung sah.
Harras hat mich nie angeknurrt oder gar gebissen. Dennoch musste er eines Tages den Hof verlassen, weil er jedermann, der nicht zum Hof gehörte, verbellte oder gar verbiss. An erster Stelle stand auch bei ihm der Briefträger, der sich irgendwann weigerte, die Post bis zum Haus zu tragen.
Harras wurde nach Schmallenberg an eine Gastwirtschaft verkauft. Als ich Monate später mit dem Fahrrad dort vorbei kam. saß Harras friedlich oben auf der Eingangstreppe. Ich wunderte mich, dass man ihn so alleine hier sitzen ließ. Als er mich kommen sah und meinen bekannten Pfiff hörte, sprang er mit einem gewaltigen Satz von der Treppe, rannte auf mich zu und sprang an mir hoch, sodass er mich beinahe mitsamt dem Fahrrad umgerissen hätte. Die Wirtsleute, die diesen Vorgang vom Fenster aus beobachtet hatten, kamen in größter Aufregung angerannt, um mir beizustehen und mich von Harras zu befreien. Sie merkten jedoch sehr schnell: Harras und ich verstanden uns.
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