Saalhauser Bote Nr. 16, 1/2005


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Maikäfer, flieg...! Kindheitserinnerungen und mehr....

Fortsetzung aus 1/2003

- von Friedrich Bischoff -


Wer sich die Mühe machen will und im Saalhauser Boten, Ausgabe 1/2003, nachschauen möchte, der wird feststellen, dass ich bereits dort über die Erlebnisse und Eindrücke während des zweiten Weltkrieges und bei Durchzug der Kriegsfront geschrieben habe. Dieses geschah aus der Sicht eines damals achtjährigen Kindes und sollte, wie auch alle anderen Beiträge, keinesfalls eine historisch fundierte Dokumentation sein. So möchte ich auch jetzt wieder an gleicher Stelle ansetzen, nachdem ich von Herrn Gniffke um einen Beitrag zu diesem Thema aus Anlass des Kriegsendes vor 60 Jahren gebeten wurde. Diese aktuelle Themenstellung macht um so mehr Sinn, als in bestimmten dumpfgeistigen Ecken und Winkeln unserer Gesellschaft die furchtbaren Ereignisse vor 60 Jahren zunehmend relativiert oder verharmlost, wenn nicht gar geleugnet werden. Es kann sich ja auch kein Mensch, der nach dem Krieg geboren wurde, noch nie Tiefflieger oder Bombeneinschläge erlebt hat und noch nie in seinem Leben bei jedem Knall voller Angst zusammengezuckt ist, vorstellen, dass das für ihn einmal Lebenswirklichkeit werden könnte, so wie wir sie erlebt haben.


Da gibt es nicht nur die Bombennächte in Bochum, die uns in die Luftschutzkeller und -bunker trieben und uns um unser Leben zittern ließen. Da gibt es nicht nur die vielen Frauen und Kinder und vereinzelt auch Männer, die dicht gedrängt, weinend und betend jedem Bombeneinschlag nachspürten, immer mit der Bitte: Lieber Gott, lass es nicht hier einschlagen! Da gibt es nicht nur die Toten vor dem Bunker, die nicht rechtzeitig Einlass fanden und über die ich als kleines Kind von fünf Jahren an der Hand meiner Mutter nach der Entwarnung steigen musste.


Den Bunkereingang gibt es heute noch auf dem Imbuschplatz in Bochum. Dieser Platz gehörte zum Schulbezirk der Schule, dessen Schulleiter ich später geworden bin. Jeden Dienstag, wenn wir mit der gesamten Schule zum Schulgottesdienst in die St. Josefskirche gingen – die Schüler waren alle älter als ich damals - passierten wir diese Stelle. Mir traten immer wieder die Bilder vor Augen, während die Kinder unbeschwert und fröhlich vorbeizogen, ohne auch nur das Geringste zu ahnen. Glückliche Kinder.


Wer kann schon die Gefühle nachempfinden, die uns überkamen, als wir wieder einmal nach Stunden der Angst im Bunker feststellen mussten, das es diesmal unser Haus getroffen hatte: das Dach abgedeckt, rauchend, die Wohnung zerstört, Mauern eingestürzt. „Volltreffer“, so sagten damals die Erwachsenen und „wie soll es jetzt weitergehen?“


Es ging weiter und so fanden wir uns Ende Februar 1943 in Saalhausen im Kreise Olpe wieder. Man nannte das Evakuierung. Wir waren in einem Zug Richtung Ostpreußen unterwegs und blieben dank des energischen Eingreifens meiner Mutter gleich nach unserer ersten Station in Saalhausen zurück.


Hier umfing uns eine völlig neue Welt. Kein Flugzeug, keine Sirenen, die uns jedes Mal in Angst und Schrecken versetzten, kein furchtbares Krachen, keine Trümmer. Hier war Stille, eine friedliche, eine himmlische Stille. Doch gleich in den ersten Tagen versetzte uns ein erneutes Krachen in Angst und Schrecken. Es stellte sich jedoch als harmlos heraus. Man hatte große Eisschollen, die lenneabwärts trieben und sich vor der Brücke an der Schützenhalle gefährlich stauten, einfach weggesprengt. Für die Saalhauser ein spannendes Schauspiel, für uns alles andere als das.


Dass wir in Saalhausen jedoch nicht außerhalb der Welt lagen, wurde uns besonders am 4. November 1944 bewusst. Am Abend dieses Tages färbte sich der Himmel schräg über der Helle nach Nordwesten hin feuerrot. Was wir befürchteten, war eingetroffen und so konnten wir von Saalhausen aus sehen, wie das Ruhrgebiet in Flammen stand. Alliierte Bomber hatten in einem Großangriff unter anderem die gesamte Innenstadt Bochums und alle wichtigen Kriegsziele in Schutt und Asche gelegt. Die Folgen sind heute noch in aller Deutlichkeit erkennbar. In der Innenstadt Bochums findet man nur noch vereinzelt Gebäude aus der Zeit vor dem Krieg. Alles andere wurde nach dem Krieg erbaut.


Doch im Frühjahr 1945 hatte der Krieg auch Saalhausen erreicht. Die Front zog von Winterberg her das Lennetal hinab. Es waren amerikanische Truppen, die sich Saalhausen immer mehr näherten. Es begann mit Tieffliegern, die auf alles schossen, was sich bewegte, so dass wir auf dem Weg in den Felsenstollen unter der Legge hinter den Stämmen der Straßenbäume Schutz suchten, um nicht ins Schussfeld zu geraten.


Die Einnahme des Dorfes mussten wir nicht miterleben. Man hatte alle Dorfbewohner aufgefordert, sich im Wald in Sicherheit zu bringen. So verbrachten wir diese Tage gemeinsam mit vielen anderen Menschen in einer Waldhütte. Zurückgekehrt sahen wir die Schäden, die die Front hinterlassen hatte. Das Dach von Heers Scheune, in der wir wohnten, hatte einen Granattreffer abbekommen und wurde zunächst notdürftig repariert. Doch bevor wir wieder ins Haus konnten, hausten dort Soldaten, während wir irgendwo eine Notunterkunft bekamen. Als wir wieder zurückkehren durften, war die Wohnung demoliert und auch der Rest unserer Habe war zerstört oder nach Abzug der Soldaten abtransportiert (!) worden.


Ein besonderes Schauspiel bot sich uns in den folgenden Tagen. Wir waren bereits wieder in die Wohnung zurückgekehrt. Sie befand und befindet sich noch heute direkt an der Straße gegenüber der Rötz´ Kurve. Von hier aus konnte ich gut beobachten, wie endlose Schlangen von amerikanischen Lastwagen, kurz Ami-Wagen genannt, Richtung Altenhundem fuhren. Es dauerte jeweils zwei bis drei Stunden, bis der letzte Wagen vorüber war. Auf den Wagen befanden sich amerikanischen Soldaten, die uns hinten durch die offene Plane lachend zuwinkten. Das Führerhaus hatte über dem Fahrersitz eine runde Luke. Hier saßen die Fahrer der Wagen bei geöffneter Luke auf dem Dach, die Füße auf dem Lenkrad, und steuerten so ihre Fahrzeuge. Alles andere wurde von einem Beifahrer erledigt. Selbst in Rötz´ Kurve änderten sie nicht ihre Fahrweise.


War dieses noch interessant und spannend, so zog des Abends wieder die Furcht bei uns ein. Meine älteste Schwester, damals siebzehn Jahre alt, besaß dichtes blondes Haar. Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie trotz Warnungen die Wohnung verlassen musste. Das blonde Haar hatte es wohl besonders den schwarzen Besatzungssoldaten angetan, denn wir mussten feststellen, dass sie ständig unser Haus beobachteten. Wir befürchteten das Schlimmste.


Da das Haus keine Fensterscheiben mehr besaß, vernagelten wir die Fenster und Türen am Abend mit Brettern und rückten zur weiteren Verstärkung unsere alte Nähmaschine, die wir aus Bochum gerettet hatten, und andere Gegenstände vor die Tür. Meine Schwester wurde auf dem Dachboden versteckt und wir warteten mit klopfendem Herzen auf das, was kommen sollte. Und es kam auch. Gegen Mitternacht wurde heftig gegen die Tür geschlagen. Wir spähten durch die Bretterspalten und sahen die Soldaten, die jetzt nach dem blond girl verlangten. Als die Tür trotz ihrer Anstrengungen nicht nachgab - wir stemmten uns in größter Angst noch zusätzlich dagegen - versuchten sie mit ihren Gewehrkolben die Bretter in den Fenstern einzustoßen. Aus uns unbekannten Gründen ließen sie plötzlich von ihrem Vorhaben ab und verschwanden. Meine Mutter beschwerte sich am nächsten Tag bei einem deutsch sprechenden amerikanischen Offizier. Als am Abend wieder das Gleiche geschah, hielt plötzlich ein Ami-Fahrzeug vor der Tür und wir hörten laute Kommandorufe. Zwischen den Brettern hindurch sahen wir, wie die Soldaten von gestern von anderen Soldaten mit weißen Helmen und weißen Gamaschen auf das Fahrzeug, das selbst ein großes weißes MP trug, getrieben wurden. Später erfuhren wir, dass unterhalb des Dorfes auf Trillings Wiesen einige Soldaten fürchterlich verprügelt worden seien.


Die folgenden Wochen und Monate und auch noch die nächsten Jahre waren neben allen anderen Entbehrungen in der Hauptsache von Hunger geprägt. Eine Schnitte Brot täglich, bestrichen mit markenfreier Marmelade, war die Anfangsration. Eigene Versorgungsquellen besaßen wir nicht so wie die meisten Einheimischen. Wie es meine Mutter unter solchen Umständen dennoch geschafft hat, uns – insgesamt sechs Personen - zumindest mit dem Notwendigsten zu versorgen, bleibt mir bis heute ein Rätsel und fordert mir immer noch die größte Hochachtung ab. Woher nicht nur meine Mutter sondern alle Mütter damals die Kraft nahmen, bleibt wohl für immer ein Geheimnis der Mütter.


Die große Hamsterwelle, in der durch Umtausch gegen Nahrungsmittel oder Betteln ausgebombte und verarmte Menschen aus dem Ruhrgebiet ihren Hunger zu stillen suchten und die Dörfer überschwemmten, ging an uns vorbei. Zum Umtauschen besaßen wir nichts und alles andere war für uns undenkbar.


Dass wir dennoch nicht allein standen und auch von außen Unterstützung bekamen, erfuhr auch ich später, allerdings mit großen Gewissensbissen. Die Schule hatte bereits wieder begonnen. Eines Tages, die große Pause war beendet, betraten wir den Klassenraum und eilten auf unsere Plätze. Als wir unsere Griffelkästen, die auf den Tischen lagen, einpacken wollten, bemerkte ich ein zusammengefaltetes Stück Papier unter meinem Griffelkasten. Ich entfaltete es und hatte plötzlich einen Geldschein im Werte von 20 Reichsmark in der Hand. Erschrocken saß ich da und wollte schon nach vorne laufen, um das Geld als gefunden abzugeben. Da kam mir der Gedanke, dass das Geld vielleicht absichtlich unter den Kasten gelegt worden war. Ich schaute mich ängstlich um, ob mich jemand beobachtete. Doch niemand beachtete mich. Als ich, getrieben von ständigem Hunger, das Geld heimlich einsteckte, um es mit nach Hause zu nehmen, bekam ich ein so schlechtes Gewissen, dass ich es meiner Mutter kaum abzugeben wagte. Auf ihre erstaunte Frage hin erklärte ich ihr, ich hätte das Geld gefunden, was letztlich ja auch stimmte. Trotzdem begleitete mich mein schlechtes Gewissen noch eine ganze Weile, denn ich hatte ja Geld behalten, das mir nicht gehörte. Später setzte sich dann aber doch die Erkenntnis durch, dass es sich hier um eine aus gutem Herzen kommende Hilfe handelte. Dieses Erlebnis wurde für mich zu einem Schlüsselerlebnis, das mein späteres Verhältnis zu Saalhausen und seinen Bewohnern nachhaltig prägte.


Wie konnten Menschen sich nur soviel Leid antun, dass es zu all dem kam, was wir erleben mussten? Diese nahezu kindliche Frage, die wir uns damals stellten, hat auch heute an Aktualität nichts verloren. Doch das, was wir damals aus all dem Erlebten als sicher erkannten, scheint heute an Bedeutung eingebüßt zu haben:


Solange menschliche Interessen, seien es politische, gesellschaftliche oder besonders auch persönliche Interessen Vorrang vor menschlichem Leben an sich erhalten, werden sich Krieg, Auschwitz und Dresden immer wieder in den verschiedensten Formen wiederholen. Diese Binsenwahrheit gilt für alle Menschen und für alle Entscheidungen, die auf die Existenz menschlichen Lebens abzielen. Es macht schon sehr betroffen, wenn bei uns heute Personen, die auf diesen so selbstverständlichen Zusammenhang hinweisen, in aller Öffentlichkeit beschimpft und verleumdet werden dürfen und das nicht aus dumpfgeistigen Ecken und Winkeln, sondern vor allem von denen, die sich selber als Meinungsspiegel der Gesellschaft betrachten.



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