Nachdem die schlimmsten Kriegsfolgen überwunden waren, bemühte sich jedermann, trotz der noch insgesamt herrschenden Not, Normalität in den Alltag einkehren zu lassen.
So gelang es dem damaligen Bürgermeister Brüggemann, für meine Familie eine größere Wohnung zu beschaffen. Die Wohnung auf „Heers Scheune“ war in dem Kriegschaos, in dem wir nach Saalhausen verschlagen worden waren, ohnehin nur als Notlösung gedacht.
Trotz oder vielleicht gerade wegen der räumlichen Enge hatte uns diese Wohnung in den letzten Kriegsjahren und besonders während und nach dem Durchzug der Kriegsfront immer wieder Schutz und Geborgenheit gegeben. Mit deutlich empfundener Wehmut nahmen wir dann 1947 Abschied von der Wohnung – aber nicht nur von der Wohnung.
Denn da gab es noch die legendäre Treppe. Diese überbrückte das nahezu ebenerdige Kellergeschoss, stand senkrecht zur Giebelfront und führte in die erste Wohnetage. Darüber gab es nur noch den Heuboden.
Die Treppe ragte somit mitten in den Weg hinein und alles, was sich auf ihrer Straßenseite bewegte, musste sie umgehen. Sie stand im Bewusstsein der Dorfbewohner stellvertretend für das ganze Haus. Wurde ich gefragt, was anfangs sehr häufig geschah: „Wem bist du denn?“, was gleichbedeutend war mit „Wem gehörst du?“, so bekam ich nach hinreichender Klärung der Besitzverhältnisse immer wieder zu hören: „Ach so, du wohnst auf Heers Treppe.“ So muss es denn ja wohl gewesen sein.
Für mich hatte diese Treppe immer eine besondere Bedeutung. Von hier aus und auf ihr konnte ich alles beobachten, was um mich herum geschah: Dinge, die ich schnell wieder vergaß und Dinge, die ich gerne wieder schnell vergessen hätte, gute Dinge und böse Dinge.
So sehe ich heute noch die schwarzen amerikanischen Soldaten diese Treppe heraufkommen, um mit ihren Gewehrkolben die vernagelte Tür und das Fenster rechts daneben gewaltsam zu öffnen. Sie suchten das „blond girl“. Ohne Erfolg.
Von dieser Treppe wurden in einer der folgenden Nächte beim Wiederholungsversuch die Soldaten von der plötzlich auftauchenden Militärpolizei heruntergerissen und brutal in ihr Militärfahrzeug verfrachtet.
Von dieser Treppe aus beobachtete ich die endlose Kolonne amerikanischer Militärlastwagen, die stundenlang in Richtung Altenhundem fuhren, und sah die Soldaten hinten drauf, die mir lachend zuwinkten.
Von dieser Treppe aus beobachtete ich einige Monate später einen so genannten „Holzkocher“, einen Lastwagen also, der mit Hilfe eines Holzofens auf der Ladefläche angetrieben wurde. Er kam aus Richtung Schmallenberg. In der „Rötz Kurve“, die gerade einmal die Breite eines Feldwegs besaß, berührte er ein entgegen kommendes Pferdefuhrwerk hinten links an der Bremse, ohne es zu beschädigen. Der Fahrer des Autos hielt sofort an, betrachtete den Leiterwagen und ging mit ausgestreckter Hand auf den Fuhrmann zu. Dieser jedoch schlug ihm zu meinem Entsetzen mit voller Wucht ins Gesicht und prügelte so lange auf ihn ein, bis dieser sich in sein Fahrzeug rettete. Von da an machte ich immer einen großen Bogen um ihn. Viele Jahre später ist er unter tragischen Umständen bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen.
Von dieser Treppe aus sah ich ein weiteres Beispiel an Gefühllosigkeit, zu der Menschen in der Nachkriegszeit – und nur da? – fähig waren: So beobachtete ich, wie jemand aus dem Dorfe mit seinem hoch mit Brennholz beladenen Fuhrwerk die Legge hinauf wollte. Trotz aller Anstrengungen war das Pferd nicht in der Lage, den schweren Wagen hinaufzuziehen. Da nahm der Bauer einen geeigneten Ast vom Wagen, fasste ihn mit beiden Händen und schlug mit aller Gewalt auf das Pferd ein. Und das Pferd schaffte es tatsächlich. Als das Fuhrwerk zurückkam, verließ ich meinen Beobachterposten, um mir das Pferd anzusehen. Und richtig. An der linken Flanke klaffte eine große, blutende Wunde – Kindheitserinnerungen …!
Familie Bischoff auf der legendären Treppe vor Heers Scheune. Der Vater, hier noch vermisst, war bereits gefallen. Der kleine Mann (v. l.) scheint sich offensichtlich über neue Eindrücke zu freuen, die er später einmal für den Saalhauser Boten verwerten kann.
Doch ganz anders war es, wenn die Treppe das sein konnte, was sie wirklich war: eine Verbindung zwischen den Menschen. Man musste sie ja nicht nur umgehen, sondern sie lud auch immer wieder zum Verweilen ein. Dabei erwiesen sich die kleinen Sitzbänke oben auf dem Treppenpodest rechts und links der Tür als besonders vorteilhaft. Hier traf ich mich oft mit den Schulfreunden und hier heckten wir manche Unternehmung aus. Es sollen sogar Streiche darunter gewesen sein.
Ins Grübeln kam ich immer dann, wenn sich des Abends plötzlich große Jungen aus dem Dorf auf der Treppe einfanden und hier ihre munteren Späße trieben. Dass aber meine großen Schwestern, und davon hatte ich ja gleich drei, der Grund für die Anwesenheit der Jungen sein sollten, war mir völlig unverständlich. Reichte es nicht, dass sie ohnehin schon immer wieder mit ihren Freundinnen meine Kreise einengten? Später ging mir auf, dass ich da wohl einiges noch nicht so recht verstanden hatte.
Selbst heute noch, wenn ich mich in Saalhausen aufhalte und an der Scheune vorbei komme, die in keiner Weise mehr mit der von damals zu vergleichen ist, geschieht es immer wieder, dass ich stehen bleibe und mich in die damalige Zeit zurückversetze.
Von hier nun nahmen wir Abschied. Und so zogen wir mit unseren Habseligkeiten in den unteren Teil des Dorfes in das große Haus vom „Müllers Kurt“. Hier war alles ganz anders. Hier gab es viel Platz. Nicht nur das große Haus, auch der Hof, der Garten, die Wiese und vor allem der große, Abenteuer verheißende Anbau, all das empfand ich als riesig und es durfte auch alles in angemessener Weise genutzt werden.
Dieses Modell entstand als Hausaufgabe bei Lehrer Stöwer. Es zeigt Müllers Haus. Vor dem Anbau entstand später das Informationszentrum.
Unsere Wohnung selbst umfasste drei Zimmer: eine Küche, die gleichzeitig als Wohnraum diente, und zwei Schlafzimmer. Die Küche lag direkt über dem Kuhstall, in dem eine Kuh für die nötige Milchversorgung sorgte. Und da wir immer noch in der Zeit der Not lebten, war jedes Mal die Freude groß, wenn uns Frau Müller einen großen Topf Milchsuppe brachte, was wiederholt vorkam.
Hinter dem Kuhstall, an der Rückwand des Hauses, lag die Miste. Hierhin wurde der Mist direkt durch eine Klappe hinaus befördert. Selbst der viel besungene „Hahn auf dem Mist“ fehlte nicht. Für uns wurde es selbstverständlich, ihn morgens stolz auf dem Misthaufen stehend lauthals krähen zu hören. Die Antwort rings umher ließ nicht lange auf sich warten, denn an nahezu jedem Haus im Dorf befand sich auch ein entsprechender Misthaufen.
Dass später einmal im Bereich der Miste neben einer Garage das Saalhauser Informationszentrum entstehen würde und dass sich hier einmal viele Menschen Rat und Entspannung holen sollten, konnten wir damals nicht ahnen.
Erst in späteren Jahren wurde mir so recht bewusst, wie groß die Hilfsbereitschaft damals war und wie sehr die Menschen trotz eigener Schwierigkeiten immer wieder bereit waren, sich selbst einzuschränken und Opfer auf sich zu nehmen um zu helfen.
Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, und das geschieht besonders dann, wenn ich über diese Zeit schreibe, so überkommt mich jedes Mal ein Gefühl der Dankbarkeit. Wir können uns heute einerseits freuen, dass wir Opfer dieser Art nicht mehr bringen müssen. Andererseits aber zahlen wir dafür mit einem hohen Preis an Menschlichkeit angesichts der allgemeinen Entwicklung in unserer Gesellschaft.
Wird fortgesetzt.