Saalhauser Bote Nr. 17, 2/2005


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Tagebuchaufzeichnungen zum Kriegsende 1945

- Fortsetzung -

- von Thea Schöttler -


Wie haben wir immer die Soldaten bedauert, wenn sie an der Front lagen, haben aber nie der armen Zivilbevölkerung gedacht, die all das mitertragen musste.

Obschon damals nur im Ausland gekämpft wurde, aber Menschen waren es doch, um deren Leid und Elend wir uns nicht kümmerten, nicht einmal daran dachten und sie doch gerade so unschuldig am Krieg waren wie wir unter der Nazi-Herrschaft stehenden Menschen.

So aber haben wir es am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie es unseren Nachbarstaaten ergangen ist.


Die Zeit rückte immer weiter vor. Der Kessel, in dem wir uns befanden, wurde immer enger. Die Spannung unserer Nerven, wie alles noch kommen würde, zermürbte uns täglich mehr.


Man erzählte sich schon die schrecklichsten Sachen aus dem Frontgebiet. Diese Nachrichten brachten die Flüchtlinge mit, die hier vorbei zogen und auch nicht mehr wussten, wohin.

Das waren wirklich arme Menschen, die nur noch auf die Barmherzigkeit anderer Leute angewiesen waren. Es lagen soviel dieser Flüchtlinge auf den Landstraßen, dass sie nachts in den Dörfern nicht all unter Dach gebracht werden konnten. Viele, darunter auch Frauen und Kinder, mussten draußen im Straßengraben übernachten. Das war noch im März, also bitterkalt. Auch kamen große, geschlossene Transporte von Franzosen, Belgiern und auch Russen, die von deutschem Militär bewacht wurden. Einmal bekamen wir 45 Franzosen in die Scheune einquartiert. Sie waren total erschöpft und ausgehungert. Wir stellten ihnen 2 Ztr. Kartoffeln, die sie dann sogleich im Vieh- und Waschkessel gar dämpften. Einige der Männer liefen dann über die Wiesen um Salat zu suchen, den sie dann mit den Pellkartoffeln im Heißhunger verzehrten.


Jetzt kamen auch Soldaten: Transporte bei Tag und Nacht durchs Dorf, bis dann auch hier Quartiere ausgemacht und Soldaten einzogen. Dies war ungefähr 14 Tage vor der Einnahme des Dorfes.

Der Herr Hauptmann und der Oberschirrmeister kamen und besichtigten unseren Hof mit den dazugehörigen Gebäuden. Man fand ihn geeignet und somit bekamen wir die Fahrzeugreparaturwerkstatt auf den Hof. Nebenbei wurde noch gesagt, sich dagegen zu wehren, hätte keinen Zweck, man wolle uns aber mit der Einquartierung im Wohnhaus möglichst verschonen.

So also zog die Werkstatt bei uns ein. Der Wohnwagen wurde ganz in Deckung gefahren und die Fahrzeuge gut getarnt, damit die Flieger den Standort nicht leicht entdecken konnten.

Die Scheune packte man voller Ersatzteile, Fahrzeugbereifungen und Werkzeuge. An Personal waren der Feldwebel mit noch 8 Mann in der Werkstatt.

Nun, wo das Dorf voller Lastkraftwagen lag, war die Gefahr noch größer. Da kreisten die Jabos den ganzen Tag in dieser Gegend herum.

Bei uns fuhren die Wagen durch die Werkstatt aus und ein. Darüber regte Mama sich sehr auf und ging an einem Sonntagmorgen zum Hauptmann um demselben klar zu legen, in welch großer Gefahr unser Hof schwebe und die doch abzuwenden sei, wenn nur bei Dunkelheit die Wagen von und nach dem Hof führen.

Sogleich schickte der gute Mann einen Melder mit Mama zu uns rüber, der den Befehl bringen musste, dass bei Tage kein Wagen zum Hof fahren, noch in der Nähe desselben stehen dürfe und dieser Befehl sei strengstens auszuführen, auch wenn den ganzen Tag nichts gearbeitet werden könne. Darüber waren wir alle sehr froh.


Die Fahrzeuge dieser Einheit, es waren ihrer 80 Stück, wurden von hier aus zur Front geschickt um Verpflegung und Munition dorthin zu bringen. Der Parkplatz für diese war in der Gleie. Eigentlich einem sehr geschützten Ort. Doch dauerte es nur wenige Tage, bis die Flieger diesen Fang gesichert und auch dem sicheren Untergang verschrieben hatten.

Dazu kamen sie an einem Vormittag zu 8 – 10 Flugzeugen, die dann aus allen Rohren auf die Fahrzeuge schossen.

Wir saßen 1 Std. lang im Keller. Da war auch das wieder vorbei. Wem dieser Angriff galt, sah man sogleich, denn hinter der Helle war alles ein schwarzer Rauch.


Auch ein Stück Wald am Stöppelkopf war in Brand geschossen. Nun galt es das Feuer zu löschen. Die Soldaten mussten alle sofort hin. Aber zu retten gab es nichts mehr. Die Fahrzeuge waren alle total ausgebrannt bis auf einige, die gerade auf Tour waren.


Wie überall war auch hier der Volkssturm ausgebildet worden. Papa war auch darunter.

Er war nun der erste im Dorf, der den Stellungsbefehl nach Olpe bekam. Da waren wir allerdings wie zerschlagen. Die Jungens waren weg, nun sollten wir Papa auch noch hergeben. Aber der Zufall wollte es,, dass Munition von der Einsiedelei bei Welschen-Ennest nach Bracht gefahren werden musste. Dazu wurde Papa von dem hiesigen Militär verpflichtet. Also konnte er dem Stellungsbefehl keine Folge leisten. 4 Nächte lang war er mit beiden Pferden unterwegs. Es war auch nicht angenehm, in der Dunkelheit zu fahren, aber immer besser als Volkssturmmann zu sein.


Jeden Tag kamen neue Soldaten und quartierten sich im Dorf ein. Da gab es kein freies Zimmer, keinen Raum mehr. Auch wir bekamen in ein Wohnzimmer, das wir bis dahin noch frei halten konnten, eine Schreibstube, ein sogenanntes Quartierzimmer. Es war belegt mit 2 Unteroffizieren. Abends spät um 11 Uhr noch wurde das Telefon angeschlossen. Jetzt aber gab es im Haus keine ruhige Minute mehr. Die Offiziere trafen sich hier um die Befehle an die Front zu erteilen, denn wie man uns sagte, war es das einzige Telefon. Tag und Nacht schrillte es und kamen die Melder angefahren. Dazu war die Werkstatt noch auf dem Hof. Deren Belegschaft kam zu jeder Zeit in die Küche, um sich zu wärmen oder auch um ein wenig mit uns zu plaudern. Aber damit noch nicht genug. Es kamen drei Unteroffiziere, die gern zu uns wollten. Mama konnte diesen auch nicht absagen, weil sie so lustige und liebe Jungens waren und ihr in die Hand versprachen, recht brav und artig zu sein.

Also zogen auch diese drei mit noch einem andern Soldaten, der ihr dienstbarer Geist war, bei uns ein.


Diese waren Soldaten einer Panzerlehrdivision. Ihre Panzer hatten sie linksrheinisch, weil kein Brennstoff mehr da war, sprengen müssen – "hochbocken" – wie die Soldaten sagten.

Jetzt fuhren sie die Verpflegungswagen. Darum hatten sie von allem im Überfluss. Wie die Brüder gelebt haben, ist nicht zu beschreiben. Dagegen kamen andere Soldaten, die um ein Stück trockenes Brot bettelten. Tag und Nacht wurde nur gegessen und die feinsten Weine und Liköre getrunken.

Ich muss auch noch vermerken, dass Mama eine wirkliche Soldatenmutter geworden war. Hatte einer eine Not, der kam zu Mutti. Mutti musste überall dabei sein. Jeder machte ihr eine Freude. Der eine brachte Bohnenkaffee, der andere Schokolade.


Das Einvernehmen mit den Soldaten war wirklich schön. Hiltrud und ich hießen nur immer „Schwesterchen“. Die Soldaten waren noch echte Jungens. Keiner von diesen, der uns Mädchen in jeder Beziehung zu nahe gekommen ist. In dieser Zeit der großen Gefahr und des bevorstehenden Unheils waren sie uns eine große Stütze und gute Kameraden. Sie erteilten uns Ratschläge und Verhaltungsmaßregeln bei Artilleriebeschuss usw. Denn der stand nun unmittelbar vor der Tür.


Die Firma Koch & Mann hatte hier in der Schützenhalle ein großes Lebensmittellager. Dieses wurde nun von den Bewohnern gestürmt. Säcke von Zucker, Reis, Hülsenfrüchten und Süßigkeiten wurden gestohlen. Wir haben nur nachher pro Kopf 20 Pfd. als der Rest zur Verteilung kam, gekauft. Dagegen hatten andere Familien 5 – 10 Ztr. oder auch noch mehr.

Auch in den Geschäften, was noch an Textilwaren vorhanden war, wurde ohne Kleiderkarte oder für ganz wenige Punkte verkauft.


Schon rollte Wagen auf Wagen, alles von oben herunter (Schmallenberg) zurück, wohin wusste niemand. Ein Ausweichen vor dem Feind gab’s doch nicht mehr.


Ein kalter Schauer überlief den Rücken, als es auf einmal hieß, Fredeburg ist gefallen. Man rückte uns von Stunde zu Stunde näher auf den Pelz. Da stellten wir Kisten mit Lebensmitteln und anderen Sachen und fuhren sie in die Hütte, damit für einige Tage zu leben genügend oben war. Vieles an Eingemachtem, gutes Porzellan und Glaswaren packten wir in Holzleisten und gruben sie irgendwo in die Erde. So versteckte man alles, weil die Soldaten dies für richtig fanden. Nun lief die Nachricht ein, dass Schmallenberg gefallen ist. Da wurde es aber erst lebendig im Dorf.

Direkt hinter unserer Scheune, auf Schulten Hof, stand ein Funkwagen mit 4 Mann Besatzung. Sie kamen und brachten uns schon immer die neuesten Nachrichten. Diese fingen nun zuerst an, ihre Sachen einzupacken. Die Kanonen donnerten ununterbrochen. Man hatte auch hier einige Pack-Geschütze eingegraben, die nun das Feuer eröffneten. Da dauerte es nicht mehr lange, bis die feindliche Artillerie sich auf Saalhausen eingeschossen hatte.


Es war am Freitagnachmittag, als wir zum ersten Mal die Einschläge hörten. Die Soldaten wollten uns noch beruhigen, es wären Abschüsse, aber wir wussten, die Geschosse waren oberhalb des Dorfes über dem Bahnhof explodiert. Nun hatten die Soldaten es aber eilig. Der Abzug sollte noch an demselben Abend stattfinden. Den Jungens wurde der Abschied nicht ganz leicht. Viel lieber wären sie geblieben und hätten sich hier dem Amerikaner gestellt.

Aber Befehl ist Befehl. Erst am anderen Morgen ging’s weg.


Der Beschuss wurde immer heftiger. Die Soldaten, die das Dorf verteidigen sollten, rückten ein. Diese Männer waren verbittert und ergrimmt, denn sie waren ausgehungert und hatten schon tagelang auf den Bergen vor dem Feind gelegen. Mama und Karl Bernhard hatten wir schon am Freitagabend in die Hütte geschickt. Dort waren sie geschützt vor dem Artilleriefeuer. Zudem lag unsere Hütte dicht an einem Stollen, den man für diesen Fall kurz vorher fertig gestellt hatte.


Samstagnachmittag: Hiltrud und ich sind noch am putzen, trotzdem alle Nachbarn und unsere Evakuierten sitzen im Keller, da schlug die erste Granate mitten ins Dorf. Dabei fiel der erste Zivilist.

Vorher lag nur die Straße oberhalb des Dorfes und die Gegend am Bahnhof unter Feuer. Jetzt aber ging’s wie toll. Da bemühten auch Hiltrud und ich uns in den Keller hinab. Bald ging die Schießerei in ein regelrechtes Trommelfeuer über. Die Granatsplitter flogen nur so in der Weltgeschichte herum. Eine Granate schlug vor dem Haus in die Gärten, eine zweite direkt hinter den Holzschoppen.

Das Trommelfeuer dauerte 1 ½ - 2 Std.. Wer bis dahin noch nicht beten konnte, hat es in diesen Stunden gelernt.

Wir dachten, nun wird das Dorf sturmreif geschossen und dann greift der Amerikaner an, bald werden wir erlöst sein. Aber wir hatten vergeblich gehofft. So leicht sollten wir nicht davon abkommen.


Nachher trat eine Ruhepause ein. Wir benutzten diese, um noch mal schnell nach draußen zu laufen und uns den Schaden anzusehen. Wir hatten wirklich großes Glück gehabt. Bis auf einige von Granatsplittern zerschlagene Fensterscheiben war bei uns nichts passiert. Anders sah es schon bei Patts, Drees und Gregors aus. Die hatten ordentlich was abgekriegt.

Aber bald schon ging’s wieder in den Keller. Kochen war ganz Nebensache. Vor lauter Aufregung verspürte man keinen Hunger mehr. In dem Keller war es bitterkalt. Zu ungefähr 30 Mann lagen wir darinnen, darunter Kinder von jedem Alter. In den Stuben und der Küche lagen Soldat an Soldat auf dem Fußboden. Die Betten standen alle frei, aber nach oben wagte sich niemand mehr. Papa hatte sich eine Liegestatt am Herd zurecht gemacht. Auch Hiltrud und ich gingen ab und zu in die Küche, um uns zu wärmen. Geschlafen hatten wir 2 Nächte nicht und vorher durch die Unruhe im Haus ganz wenig.

Der Feind lag nun direkt vor dem Dorf und hatte ringsum die Berge schon besetzt. Zum Angriff vorzugehen, hatte er keinen Mut, fürchtete wohl noch zu starken Widerstand.


Ich kann heute nicht begreifen, wie man dies alles so hingenommen hat. Es war doch ein starkes Gottvertrauen, dass uns über all das Schwere hinweg half. In dieses gewisse Gefühl hatte man sich schon langsam hinein gelebt, denn in den Wochen vorher bei Tieffliegergefahr schlug die Glocke dreimal an und wir wussten dann, jetzt steht unser Priester am Hochaltar und teilt die Generalabsolution aus. So schwebten wir da schon zwischen Leben und Tod.


In dieser Nacht von Samstag auf Sonntag musste uns zu allem Überfluss auch noch der Verteidigungskommandant des Dorfes aufregen. Es war mitten in der Nacht, als er mit seinem Adjutanten total besoffen zu uns herein kam. Ganz gefährlich sah er aus, mit Panzerfaust, Handgranaten, M.G. Pistole und einer vollen Flasche Kognak bewaffnet.


Er stieg in den Keller hinab, worüber die Frauen sich sehr aufregten und die kleinen Kinder zu schreien anfingen.

Wir überredeten ihn bis er mit uns in die Küche ging und uns dort zu der Flasche Kognak einlud. Durch unsere Absage aber erzürnten beide dermaßen, dass sie die volle Flasche Hiltrud, Göbels Tante Maria und mir vor die Füße warfen und die guten Tropfen unsere Kleider durchnässt hatten. Er drohte uns, dass jetzt unser sicherer Untergang beschlossen sei.

Die Soldaten, die auf dem Fußboden geschlafen hatten, standen erschrocken auf. Der Offizier schimpfte sie als Drückeberger usw. aus und jagte sie in die gefährliche Nacht.

Papa, sehr müde, denn die Nächte vorher hatte er Munition gefahren, lag noch auf seinem Lager. Auch er wurde von dem besoffenen Würdenträger angebrüllt. Papa aber drehte sich auf die andere Seite und dachte: „Du kannst mich mal.“ Da aber zieht der Offizier das Koppel herum, knöpft die Pistolentasche auf, zieht sie heraus und alle Menschen, die sich mittlerweile in der Küche gesammelt hatten, laufen schreiend heraus. Da hatte ich meine größte Mühe, den Kerl zu beruhigen und ihn davon zu überzeugen, dass Papa fest geschlafen und nicht von seiner hohen Persönlichkeit gewusst habe. Wo nun Hiltrud und Tante Maria hingelaufen waren, wussten wir nicht. Also waren Papa, Michel und ich mit verschiedenen Nachbarn noch allein. Anna war am Abend schon zu ihrem Kavalier in die Baracke gegangen.


Der Beschuss hielt fortwährend an, was alles schon im Dorf passiert war, wussten wir nicht.


Morgens früh um 4 Uhr rief ein Soldat ins Haus, dass binnen einer Stunde das Dorf vollständig geräumt sein müsse. Wer sich retten will, der fliehe, jedes Haus wird verteidigt.


Wie es da einem jeden von uns wurde, kann ich nicht beschreiben. Was blieb uns anderes übrig, als wirklich aufzubrechen, Haus und Hof mit dem Vieh im Stich zu lassen. Soviel ich tragen konnte, holte ich noch aus dem Keller heraus und dann ging’s los.

Den Soldaten gab ich noch die Erlaubnis, sich von allem satt zu essen. Sämtliche Türen am Haus ließ ich offen. Papa und Michel hatten jeder ein Pferd und ich drei Taschen am Arm.

Nun ging es erst durchs Dorf bis oben bei Bruders. Ich musste vorhergehen und sehen, vielmehr im Dunkeln zu tasten, wo der Weg passierbar war, denn abgeschossene Bäume, Telegrafenmasten und die Drähte lagen kreuz und quer über dem Weg. Die Granaten heulten und zischten in einem fort und landeten alle mitten im Dorf. Die Pferde bekamen es mit der Angst und wollten nicht mehr voran.

Ein dunkles Rot lag hinter den Bergen, wo der Feind schon hauste. Im Dorf war es dunkel, nur von den am Vortage abgebrannten Häusern glimmte es noch.

Jedes Mal, wenn aufs Neue ein Balken hinab in die Glut fiel, flogen die Funken auf und erhellten die Gegend. Dann konnten wir uns jedes Mal auf eine Strecke orientieren, wie sie zu begehen war. Dann, von Bruders ab, ging es durch einen tiefen Hohlweg, in dem der Dreck so hoch war, dass er mir – ich hatte hohe Schnürschuhe an – in die Schuhe lief. Wir brauchten den Weg nicht zu gehen, die Zäune waren aufgerissen um über die Wiesen gehen zu können. Dies war aber viel zu gefährlich, also benutzten wir sicherheitshalber den Hohlweg.


Alle Bewohner des Dorfes waren unterwegs. Es war ein Rufen, ein Weinen und ein Wimmern in der ganzen Gegend. Die Frauen hatten die kleinen Kinder im Wagen und blieben nun mit den Rädern im Dreck stehen. Keiner konnte sich dieser erbarmen, denn jeder hatte mit sich selbst zu tun. Da kam einem doch der Gedanke: „Herrgott, was hast Du mit uns vor, wie haben wir so etwas verdient?“

Nun oben im Wald angekommen, war es ein Gewimmel unter den Bäumen, gerade so, als wenn man einen Ameisenhaufen durcheinander gestochen hat.

Da oben in den Tannen sah man keine Hand vor Augen, so dunkel war es. Papa und Michel zogen mit den Pferden noch ein Stück höher an den Berg, um sie gut in Sicherheit zu bringen, denn sie waren beide hochtragend.

Ich konnte unsere Hütte nicht finden, bis sich ein Mann meiner erbarmte und mich zur Hütte führte. Da fand ich Mama mit Karl Bernhard und noch vielen Dorfbewohnern zusammen, aber Hiltrud war nicht da. Nun, wo war sie in der Nacht mit Tante Maria hingelaufen? Nach einigen Stunden fand auch sie sich ein. Sie war in der Nacht zur Kirche geflüchtet.

Nun nahmen wir uns vor, ständig zusammen zu bleiben, um, wenn uns ein Unglück zustoßen sollte, wir alle zusammen tot waren. Unsere Anna kam nach einiger Zeit auch in die Hütte. Sie war wirklich tapfer, war noch im Haus gewesen, hatte alles Vieh gefüttert, die Kühe gemolken und brachte uns nun einen Eimer frische Milch.

Papa und Michel gingen noch mal runter, um das Fohlen und eine Kuh zu holen. Anna erklärte sich sofort bereit, die Kühe und Rinder auf die Weide hoch in die Kirschlade zu bringen.

Wir rechneten damit, dass der Hof abbrennen und die Kühe sich dann nicht helfen konnten, also elendig wie so viele andere Kühe verbrennen mussten.


Dies war nun Sonntag, Weißer Sonntag, der 08. April 1945, den wir in der Hütte unter den schrecklichsten Gefahren verleben mussten.

Wie viele Leute in der Hütte waren, weiß ich nicht. Es mochten aber immer 25 – 30 sein. Es hatte sich ja nicht jeder eine Hütte bauen können. Die Menschen wollten sonst in den Bunker. Aber der war von den Russen belegt und sie ließen keine Deutschen mehr rein.


Für mittags habe ich dann einen großen Topf Erbsensuppe gekocht, aber ohne Salz. An alles hatten wir gedacht, aber die Gewürze fehlten. Und doch Hunger treibt`s hinein, sie schmeckte allen sehr gut.


Voller Ungeduld warteten wir auf den bevorstehenden Angriff. Man saß den lieben langen Tag unter den Bäumen, kroch auch mal bis an den Waldesrand um das Dorf von oben zu sehen.

Über unseren Häuptern, den Tannen hinweg sausten die Granaten und nahmen am Sonntag hauptsächlich die Panzersperre, die Straße und Bahnlinie unter Feuer.


Die Männer gingen auch oft höher in den Wald um Nachschau zu halten. Da kamen sie freudestrahlend zurück. Sie hatten oben auf der Höhe den Ami gesehen. Nun wurde, weil wir in dem Wald nur Zivilisten waren, die weiße Fahne gehisst.

Der Artilleriebeobachter, der schon den ganzen Tag seine langsamen Kreise um unsern Berg zog, bemerkte es und, wie andere wollen gesehen haben, hätte der Mann aus dem Flugzeug mit einem weißen Tuch zurück gewinkt.

Am späten Nachmittag kommt Schulten Hannelore uns dort oben besuchen. Schulten waren nicht geflüchtet, obwohl sie auch den Befehl zum Verlassen des Hofes bekommen hatten.

Sie erzählte, was bis dahin alles im Dorf vorgefallen war und dass unser Vieh von der Weide nach Hause gekommen sei und nun im Stalle stehe und sich den Hals abfülle.


Anna war nun nicht mehr in die Hütte gekommen. Sie lag mit den andern Russen zusammen im Bunker.

Da entschlossen wir uns, Papa, Hiltrud und ich, sowie Lehrer Plitt mit Frau, Tante Maria und Threschen, runter zu gehen, das Vieh zu füttern und dann auch noch wieder Sachen mit rauf zu bringen.

Wir waren erstaunt, als wir ins Dorf kamen und die Soldaten hinter Häusern, Hecken und Zäunen in den frisch geschaufelten Löchern liegen sahen. Das Gewehr schussbereit in der Hand. Wir beeilten uns, weil wir spürten, jetzt muss es kommen und wir wollten doch erst wieder in die Hütte zu Mama und Karl Bernhard.


Es war aber zu spät. Eben zu Haus angekommen, ging die Gewehrschießerei los. Die Kugeln flogen uns nur so um die Köpfe. Wir standen noch im Flur und berieten, wie man jetzt noch zurück kommen oder was zu machen sei, da ging´s pätsch – pätsch und eine Scheibe in der Haustür war kaputt, die Kugel zischte längs unser Ohr, desgleichen im Milchkeller, da ging’s aber eilig die Treppe hinab in den Keller.


Nachbars Lehrer und Tante Maria kamen noch angelaufen. Wir mussten bleiben, an ein Rauskommen war nicht zu denken. Ein MG-Schütze lag direkt hinter Schulten Mauer, das ratterte nur in einem fort. Die Amerikaner erwiderten das Feuer bestimmt ums 10fache.


Diese Schießerei dauerte, bis es vollständig dunkel war. Da kamen 5 Soldaten in den Keller und baten, bei uns bleiben zu dürfen, sie wollten Feierabend machen, kein Schuss ginge mehr aus dem Karabiner. Ein Unsinn wäre es, jetzt das Dorf vollständig nieder zu schießen, denn verloren wäre das Spiel doch.

Die Gewehre ließen sie oben im Flur stehen und wir waren froh, diese Soldaten bei uns zu haben. Sie erzählten uns, der Feind habe schon den Bahndamm überschritten (das war über der Legge), dort wären schon schwere Häuserkämpfe gewesen. Jetzt auf jeden Fall würde er von allen Seiten das Dorf umschließen und morgen früh bis Mittag würde alles so weit sein.


Diese unheimliche Ruhe in der Nacht drückte uns unheimlich aufs Gemüt. Es war die Ruhe vor dem Sturm.

Von den Soldaten hörten wir nun, dass unsere Artillerie dort, wo die vielen Hütten ständen, hingeschossen hätte, weil schon am Vormittag dort die weiße Fahne geweht habe. Also handelte der deutsche Soldat allerdings den Befehlen der besoffenen Offiziere gehorchend. Das Leben der eigenen Brüder und Schwestern galt ihnen nichts mehr.


Nun war es mit unserer Ruhe aus, wussten wir doch, Mama und Karl Bernhard in der größten Gefahr und konnten ihnen nicht helfen. Wir wollten heraus aus dem Keller, aber die Soldaten machten uns den Gang unmöglich.


Auf jedes Geräusch würde geschossen, wir kämen nicht heil in der Hütte an. Also mussten wir den Dingen ihren Lauf lassen. Wir beteten und vor Müdigkeit schliefen wir auch bald ein. Nicht in Betten, sondern auf dem kalten Betonboden.

Ein richtiges Schlafen war es nicht, man hatte jedes Geräusch in den Ohren.


Montagmorgen, der 09. April 1945 brach an.

Die aufs neue beginnende Schießerei schreckte uns aus dem Traum auf.


Schnell kamen wir zur Besinnung, in welcher Lage wir uns befanden. Wir daheim im Keller, Mama und Karl Bernhard in der Hütte. Ein inniges Gebet noch schickten wir zum Himmel „Herr, wir danken Dir für den Schutz in den vergangenen Tagen, lass uns auch diesen kommenden Tag noch überleben und uns die andern gesund wiederfinden.“


Ganz erstaunt waren wir, als in aller Frühe Göbeln Tante Emma zu uns in den Keller kam. Sie hatte sich stellenweise auf dem Bauch kriechend und wieder Deckung suchend aus dem Wald zu uns hergearbeitet. Es war wirklich ein mutiges Unternehmen. Aber in der Zeit war man sich der Gefahren gar nicht bewusst.

Von ihr nun erfuhren wir, dass noch alle unsere Angehörigen lebten und gesund waren, aber viele andere Dorfbewohner auch verwundet seien.


Gerade in der Nähe unserer Hütte wäre das meiste passiert, aber die Hütte keinen Schuss mitbekommen habe, nur ein Splitter quer durchs Dach geschlagen sei. Gregor Heimes liege in unserer Hütte mit einem Oberschenkelschuss, in einer anderen Herm.-Jos. Schütte mit einem Bauchschuss. Viele auch, die Splitter mitbekommen hatten. Also ein wahres Lazarett musste eingerichtet werden.

Einige Meter von unserer Hütte entfernt wäre das Pferd von Jos. Mönnig tot geblieben, auch seien einige Kühe schwer verwundet worden, die nachher noch verendet sind. Es sei ein wahres Wunder, dass in der Hütte nichts passiert sei. Wir waren zufrieden, wussten wir nun, dass Mama und Karl Bernhard gesund waren.


Nun machte sich auch der Magen bemerkbar. Wir hatten alle Hunger, besonders auch die Soldaten, die noch bei uns im Keller waren. Tante Maria, Hiltrud und ich kochten Kaffee, machten für die Soldaten den Tisch mit Brot, Butter und Schinken fertig, für uns nahmen wir alles mit in den Keller und ließen es uns gut schmecken.


Draußen wurde es immer toller. Es war ein Hasten und Laufen um die Hausecke. Dazwischen ratterten dann unaufhörlich die Maschinengewehre. Unsere Soldaten störten sich an nichts mehr. Sie bereiteten sich auf die Gefangennahme vor.

Da erscholl draußen der Ruf an die Soldaten, sich zurück zu ziehen, links hinter den letzten Häusern durch einen Hohlweg hinauf.


Also hatte auch auf unserer Seite der Häuserkampf begonnen, da galt es doppelt vorsichtig zu sein. Aber unsere Neugierde konnten wir nicht länger unterdrücken, stiegen nach oben, wo auch unsere Soldaten schon Koppelzeug, Munition usw. ablegten. Als wir nach draußen blickten, war alles ein schwarzer Rauch.

Zu unserm größten Schrecken sahen wir, dass eine ganze Ecke, also die fünf Häuser Muses, Schmelter, Wiese, Dettenberg und Stinanz brannten, also ein wahres Flammenmeer waren.

Da war es die Pflicht der Männer zu helfen, zu retten, was noch zu retten war! So zogen sie dann mit Luftschutzfeuerspritzen bewaffnet trotz der wahnsinnigen Knallerei los und ließen uns Frauen allein. Zu löschen gab es nichts mehr, nur noch einige Möbelstücke aus den unteren Stockwerken konnten herausgeholt werden.


Nun hörten wir einen Panzer über die Brücke kommen. Den Soldaten gaben wir ein weißes Taschentuch in die Hand und dann gingen sie dem Feind mit hocherhobenen Händen entgegen.

Einem jeden hatten wir noch ein Butterbrot für den ersten Hunger in die Tasche gesteckt.




Der Saalhauser Bote dankt Frau Prothmann vom Verkehrsbüro Saalhausen. Sie hat das handgeschriebene Nachkriegstagebuch für uns auf Diskette getippt.



Beim dem Interview, das Frau Graß mit Frau Deitmer führte, erhielten wir von Frau Deitmer eine 43 Seiten lange schriftliche Abhandlung „Auszug aus den Aufzeichnungen des Lehrers Plitt Saalhausen- Kriegsende“ für unser Archiv. Die Redaktion bedankt sich bei Frau Deitmer herzlich für dieses weitere Zeitdokument.



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