Saalhauser Bote Nr. 21, 2/2007
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Wir sagen euch an …! Kindheitserinnerungen und mehr …

Von Friedrich Bischoff
Wir sagen euch an den lieben Advent.
Sehet, die erste Kerze brennt!
Wir sagen euch an eine heilige Zeit.
Machet dem Herrn die Wege bereit!
Freut euch, ihr Christen,
freuet euch sehr!
Schon ist nahe der Herr.

Ja, die Adventszeit. Für uns damals eine Zeit der Stille und der Verinnerlichung. Alles Laute trat in den Hintergrund. Wir bereiteten uns auf die Ankunft dessen vor, der uns angekündigt wurde. „Advent heißt Ankunft“, hieß es in der Schule, „und je mehr und je gründlicher ihr euch auf die Ankunft des verheißenen Gastes vorbereitet, umso schöner wird der Tag der Ankunft und umso mehr wird der Gast geehrt.“

Wenn wir in der ersten Adventswoche an den üblichen drei Tagen noch vor Schulbeginn in die Schulmesse gingen, war es draußen stockdunkel. Eine einzige Kerze auf dem Adventskranz, der an einer langen Schnur inmitten der Kirche hing, versuchte gegen die Dunkelheit anzukommen. Wir betraten alle leise und vorsichtig den Kirchenraum. Und immer, wenn die Kirchentür geöffnet wurde, erzitterte dieses zarte Licht und begann zu flackern, so dass wir am liebsten die Hände schützend herum gehalten hätten. Das Licht zog uns in seinen Bann und nach einer Weile geschah etwas, was wir wie ein kleines Wunder erlebten: die Kirche schien allmählich immer heller zu werden, denn wir konnten Gegenstände und Konturen erkennen. Dieses kleine, zarte Licht, das bei jedem leisen Hauch erzitterte, war in der Lage, die große Dunkelheit in der Kirche zu durchdringen.

Das kleine Licht also besiegte die große Dunkelheit. Ein Symbol für uns und all diejenigen, die zu sehen gelernt haben und deren Blick bis heute nicht verstellt ist. Verständlich, wenn es dann weiter hieß: „Komm, Licht der Welt…“ oder „Licht, das uns erschien, Kind vor dem wir knien…,“ dass solche Texte für uns eine reale Bedeutung bekamen.

Mit der zweiten und den folgenden Kerzen wurde es heller in der Kirche und unsere Erwartung größer. Adventslieder wie „Tauet, Himmel den gerechten oder „O Heiland, reiß die Himmel auf“ sangen wir auswendig und die Sehnsucht, die aus diesen Liedern sprach, teilte sich uns mit. Alles zusammen versetzte uns in eine Stimmung, die uns in der Schule und im Alltag daheim begleitete. Wir gingen empfindsamer miteinander um, nahmen mehr Rücksicht aufeinander und bereiteten uns darauf vor, ein guter Gastgeber für das Christkind zu werden.

Bei allen äußeren Vorbereitungen für das Weihnachtsfest, lebten wir in einer Zeit, die Wert darauf legte, eine innere Beziehung zu der christlichen Botschaft von Weihnachten zu entwickeln.

Das bedeutet, jedoch nicht, dass die äußeren Vorbereitungen eine untergeordnete Rolle spielten. Diese erstreckten sich zum Teil über das ganze Jahr. So war es selbstverständlich, dass wir uns bei passender Gelegenheit bereits im Sommer einen schönen Weihnachtsbaum im Walde aussuchten und uns seinen Standort einprägten, denn vor Weihnachten lagen sie meist schon unter einer dichten Schneedecke.

Spätestens ab dem Spätsommer, konnten mein Bruder und ich meine großen Schwestern dabei beobachten, wie sie Kleidungstücke für den Winter, d.h. für Weihnachten als Geschenk strickten. Dabei kam uns bei der Wollbeschaffung eine wichtige Rolle zu, ob wir wollten oder nicht. In den ersten Nachkriegsjahren, als es noch keine Wolle zu kaufen gab, wusste man sich derart zu helfen, dass man alte, nicht mehr zu verwendende Wollsachen aufribbelte und neue Teile daraus strickte. Und hier begann unsere manchmal qualvolle Aufgabe. Uns wurden die Kleidungstücke, die „rundgestrickt“ waren, und das waren die meisten, einfach über die angehobenen Arme gestreift. Eine unserer Schwestern – es waren insgesamt drei und jede von ihnen brauchte entweder Ihn oder mich – begann nun vorsichtig, die Maschen aufzuribbeln und die Wolle zu einem Knäuel aufzuwickeln. Wehe, wir ließen die Arme einmal erschöpft sinken, so dass das Ribbeln ins Stocken geriet und dabei sogar der Faden riss. Jedes Mal dann bekamen wir wahre Geschwisterliebe zu spüren. Große Schwestern können manchmal ja so herzlos sein. Nahezu halsbrecherisch wurde es, wenn mehrere Farben aufgeribbelt wurden. Jede Farbe musste gleichzeitig auf ein eigenes Wollknäuel aufgewickelt werden. In einem solchen Fall wirbelten unsere Schwestern voreinander, hintereinander, Faden übergreifend, Faden untergreifend, sich verheddernd und wieder lösend vor uns herum, und wir durften nur eines: stillhalten. Wehe ein Faden riss – wie gesagt.

Dann aber wurde es doch spannend und wir hatten unsere Schwestern wieder lieb. Alle drei waren wahre Strickkünstlerinnen. So verstand es z.B. unsere zweitälteste Schwester, komplizierte Muster zu stricken, bei denen die einzelnen Maschen genau abgezählt werden mussten, und gleichzeitig dabei Liebesromane zu lesen. Sie vertat sich so gut wie nie.

Natürlich vollkommen ahnungslos und gern stellten wir uns jedoch immer dann zur Verfügung, wenn es darum ging, Maß zu nehmen. So kam es regelmäßig vor Weihnachten vor, dass unsere Schwestern zufällig für Kinder unserer Größe im Dorf Pullover, Handschuhe, Socken usw. stricken mussten. Dazu hätten sie bei den Kindern Maß nehmen müssen, so sagten sie. Sie möchten aber durch das Anprobieren nichts verraten, denn es sollten doch Weihnachtsgeschenke werden. Folglich waren wir dann als „Anziehpuppen“ gefordert. So probierten wir wiederholt ständig wachsende Pullover an, bis sie fertig waren. Gleiches geschah mit Handschuhen und Socken. Wenn uns dann zu Weihnachten die kunstvoll gestrickten Muster auf Pullover, Handschuhen und Socken, die wir von unseren Schwestern geschenkt bekamen, recht bekannt vorkamen, hatten wir unsere großen Schwestern wieder ganz lieb.

Jeder in unserer Familie trug auf seine Weise zum Gelingen des Weihnachtsfestes bei. So war mir zu Beginn eines Jahres unmittelbar nach dem Krieg, wir wohnten bereits beim Müllers Kurt, erlaubt worden, einen Kaninchenstall auf dem Hof aufzustellen und zwar direkt am Zaun zum Gemüsegarten mit dem schräg stehenden Apfelbaum, der noch heute dort steht und Früchte trägt. Für zwei Mark, die ich mir mühsam zusammengespart hatte, konnte ich im Dorf ein Kaninchen kaufen. Wie war ich eines Morgens überrascht, als ich beim Füttern die Stalltür öffnete und ganz hinten versteckt in einem wohligen Nest acht Junge entdeckte. Leider gelang es mir nicht, alle acht aufzuziehen. Nur bei zweien gelang es. Genug jedenfalls für einen Weihnachtsbraten in diesem und hoffentlich auch in den beiden nächsten Jahren. Etwas anderes konnten wir uns nicht erlauben. Trotzdem waren alle beim Verzehr des „Bratens“ sehr zurückhaltend und auf den Gesichtern zeichnete sich eine gewisse Überwindung ab. „Der Hunger treibt’ s hinein“, war damals eine der gängigsten Redensarten. Und so war es auch.

War dann endlich der Heilige Abend gekommen, so konnten auch wir damals den Augenblick der Bescherung kaum mehr erwarten. Da die Christmette erst gegen Mitternacht gefeiert wurde und wir bereits bis dahin aufbleiben durften, erfolgte die Bescherung vor der Christmette. Bei uns geschah das in unserer Küche, da kein anderes geeignetes Zimmer zur Verfügung stand. Es war jedes Mal ein feierlicher Moment, wenn die Küchentür, die für uns den ganzen Tag verschlossen blieb, endlich geöffnet wurde und wir uns dem strahlenden Weihnachtbaum und besonders dem Gabentisch gegenüber sahen. Dieser war mit einem großen, weißen Tuch abgedeckt und reichte aus, die Geschenke für alle sechs Personen zu tragen. Trotzdem galt es als sündhaft, neugierige oder gar begehrliche Blicke auf den Tisch zu werfen, denn wichtiger war die Erinnerung an die Geburt Christi und die Armut unter der er im Stall zu Bethlehem geboren wurde. Eine Armut, die größer war als die unsrige, davon waren wir überzeugt. So wurden zunächst Weihnachtslieder gesungen und darüber nachgedacht, unter welchen Bedingungen die Hl. Familie damals zu leben hatte. Trotz all dieser Gedanken konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, hin und wieder einen verstohlenen Blick auf den Tisch zu werfen, wem denn wohl der größere Hügel unter dem Tuch gehörte, bis es dann endlich soweit war und das Tuch abgedeckt wurde. Die Geschenke bestanden in den ersten Nachkriegsjahren aus dem, was am nötigsten gebraucht wurde wie z.B. Pullover, Handschuhe oder Socken.

Doch der eigentliche Höhepunkt war jedes Mal die Christmette selbst. Die vielen Kerzen am Altar und Weihnachtsbaum, die Krippe rechts vor dem Herz-Jesu-Altar, all das ließ die Kirche in einem Licht erstrahlen, das der Höhepunkt des Weges war, den wir Kinder Jahr für Jahr vom kleinen, zarten Lichtlein am ersten Advent bis Weihnachten gingen. Für uns wurde die Adventszeit zu einer heiligen Zeit der Vorbreitung auf Weihnachten.



Eine Arbeit von F.W. Gniffke

Am Nachmittag des zweiten Weihnachtstages gab es noch etwas Besonderes. Dann nämlich lud der TSV Saalhausen Kinder und Erwachsene in den Schmitten Saal ein. Hier kam noch einmal der Nikolaus und schenkte einem jeden von uns Kindern eine Tüte voller Weihnachtsplätzchen, Äpfel und Nüssen. So hatten dann alle Kinder im Dorf einen „Teller voll“ zu hause. Meine Frage, wieso denn jetzt noch der Nikolaus kommen konnte, wo doch Weihnachten fast vorüber war, wurde mir deshalb nicht beantwortet, weil ich sie nie zu stellen wagte.

Es lag vielleicht auch daran, dass stets eine Person unsere Aufmerksamkeit auf sich lenkte, die wir bereits aus ihrem Haus in Gleierbrück kannten: Josefa Berens. Sie setzte sich uns gegenüber an einen kleinen Tisch, während wir in unseren Stuhlreihen gespannt ausharrten. So saß sie da, klein und bescheiden, mit ihrem kurzen Haarschnitt und leicht ergrauten Haaren. Augenblicklich wurde es mucksmäuschenstill. Und sie erzählte Weihnachtsgeschichten und Wintermärchen und schuf so wundervolle Bilder in unserer Phantasie.

Ein Vergleich zwischen damals und heute drängt sich geradezu auf. Wir lebten damals in einem stark vom christlichen Glauben geprägten Umfeld. Das ist auch heute noch der Fall jedoch mit einer ständig abnehmenden inneren Beteiligung. Unsere Lebenszeit, die mit Krieg, Hunger, Not und Tod begann, kann man mit Fug und Recht eine Zeit der Finsternis nennen. Doch in dieser Finsternis bot uns das „Licht“ des Glaubens Sicherheit in der Gemeinschaft und gab inneren Halt. Von der Symbolsprache in der kirchlichen Liturgie fühlten wir uns da besonders angesprochen. Für uns war das Licht gleichbedeutend mit Leben. Wir erlebten es ständig in der Natur, wir erlebten es aber auch in den Familien, wenn eine Gefallenenmeldung von der Front kam oder Familienangehörige durch den Krieg zu Tode kamen. Wir Kinder verstanden das Zeichen, und ich denke, die Erwachsenen auch, wenn dann in der dunklen und kalten Kirche ein winzig kleines Licht brannte und die Dunkelheit besiegte.

Haben die Menschen heute kein Gespür mehr für diese Dinge? Ich behaupte, genau das Gegenteil ist der Fall. Heute, in einer Zeit der Sicherheit und relativen Sorglosigkeit, spüren sie wohl die Zusammenhänge und versuchen deshalb mit aller Macht ihrer inneren Finsternis zu entfliehen. Somit wird ihr Leben immer heller und schriller, bei Tag und bei Nacht. Zeit für eine innere Einkehr und Besinnung bleibt da kaum mehr.

Das kleine Licht jedoch wird auch weiterhin die Dunkelheit besiegen. Es wird weiter ein Symbol bleiben für uns und all diejenigen, die zu sehen gelernt haben und deren Blick bis heute nicht verstellt ist.


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