Progymnasium Altenhundem (1950 – 1956)
„Junge, geh zur höheren Schule, dann brauchst Du später nicht mit Hacke und Schüppe zu arbeiten!” Papa bearbeitete mich. Ich hatte wenig Selbstvertrauen; ich wollte lieber in Saalhausen bleiben. Papa ließ keine Ruhe: „Du bekommst dann auch ein neues Fahrrad!” Ich befragte Backes Hubert (+), der seinerzeit schon in die Quarta ging. „Für ein Fahrrad würde ich das machen!” Weihnachten 1950 bekam ich mein Fahrrad, Modell Rixe, mit Vorbaulenker und Gangschaltung (3 Gänge).
Die Voraussetzungen, die ich von der Volksschule mitbrachte, waren „marginal”. Die Aufnahmeprüfung am Progymnasium Altenhundem bestand ich nur nach mündlicher Ergänzungsprüfung. Deutsch war das Hauptproblem. Latein: gut, Mathematik: gut, Deutsch: mangelhaft. Nie werde ich den Aufsatz in der Sexta vergessen: „Der Nikolaus kommt!” Schrift und Leistung: ungenügend. So bewertete Dr. Franz Fischer, genannt Plato, mein „Elaborat”. Mit Nachhilfestunden, zunächst bei Onkel Alois (Plitt) und später bei Lehrer Grewe (wohnte im Doppelhaus Heimes, Störmecke) schaffte ich es, in Deutsch auf eine schwache „vier” zu kommen. Man muss wissen, dass eine glatte „vier” damals schon als sehr solide galt.
Mein ganzer Ehrgeiz war zunächst darauf ausgerichtet, nicht wieder zurück zu müssen in die Volksschule. Das wäre blamabel gewesen. Leider muss ich heute feststellen, und ich bedaure das sehr, dass es während der ganzen Schulzeit an Motivation fehlte. Es ging nur darum durchzukommen. Lag es an mir oder lag es an den Lehrern, dass eine echte Motivation fehlte ? Hier kommt mir Professor Hüther, der bekannte Gehirnforscher, in den Sinn. Er tritt regelmäßig im Fernsehen auf, und ich habe ihn auch schon persönlich erlebt. Er behauptet, dass man nur dann (gut) lernt, wenn auch Begeisterung „rüberkommt”. „Informationen werden nur dann nachhaltig verankert, wenn zugleich auch emotionale Zentren aktiviert werden.” Lehrer müssen begeistern können!! Begeistert war ich leider (fast) nie, aber unter enormem Druck habe ich in der Schule immer gestanden.
Jede Klassenarbeit – und es waren im Laufe von neun Jahren hunderte – war für mich mit enormer Anspannung verbunden. Wenn Plato - wir hatten in den ersten Jahren Deutsch und Latein bei ihm - die Klassenarbeiten zurückgab, dann fing er mit den „Sechsern” an, dann kamen die „Fünfer”. Es gab ein Aufatmen, wenn man bis dahin nicht aufgerufen worden war. Plato war ein Pauker vom alten Schlag. Zwei Sprüche von ihm muss ich zum Besten geben: 1. „Die lateinische Sprache ist die Scheide, worin das Messer des Geistes steckt!” 2. „Nichtskönnen, das können „se”, aber was Können, das können „se” nicht! Und wenn man z.B. in einem Satz „alleine” sagte, dann fasste er sich eines der Ohrläppchen und zog sehr fest und steil nach oben, und betonte: „Das heißt nicht „alleine”, das heißt „allein”!! Gemogelt haben wir (fast) alle; ich konnte z.B. perfekt mit einer Hand mit diesen Miniwörterbüchern umgehen! Einmal habe ich bei einer Klassenarbeit in Latein auch einen sog. „Pons” benutzt. Ein Pons war ein Minibüchlein mit Übersetzungen von z.B. „Cäsar, der gallische Krieg” oder von Cicero oder Ovid. Ramrath – ebenfalls ein Pauker vom alten Schlag – schnappte mich mit meinem zum ersten Mal benutzten Pons. Am Nachmittag traf ich ihn im Schreibwarenladen Wiethoff. Er öffnete seine alte lederne Aktentasche, zeigte auf meinen Pons und bemerkte höhnisch: „Hier ist das Corpus Delicti!”
Lammers war in den letzten zwei Jahren unser Klassenlehrer. Ich erlaube mir zu bemerken, dass ich ihn als Zyniker in Erinnerung habe. Ein Beispiel aus dem Geschichtsunterricht: Ein Schüler (er hieß Schneider und kam aus Kirchhundem) wurde mit folgender Bemerkung bloßgestellt: „Stimmt es, dass Maria Theresia die Frau war von Alexander dem Großen ??” Höhnisches Gelächter !! Er schlug auch gelegentlich mit der Hand zu. Das ging dann z.B. so ab, dass er mit der linken Hand ausholte und einem dann mit der rechten einen Schlag verpasste, der „nicht von schlechten Eltern” war. - Wir fühlten uns zwar gedemütigt, aber nicht misshandelt! Dann gab es ja auch noch jene Änne Hartmann. Bei ihr hatten wir Englisch. Wenn Englisch anstand, dann konnte man das geradezu fühlen. Die Stimmung in der Klasse war von früh an „im Keller”. Nie werde ich ihre Fragestunde kurz vor Erreichen der mittleren Reife vergessen. Jeder wurde befragt: „Was hast Du vor nach dem „Einjährigen””? Ich war an der Reihe: „Ja ich……!” „Wie, was, willst Du etwa weitermachen? Schlag Dir das aus dem Kopf, das schaffst Du nie!” Ich war am Boden zerstört. Als ich die beste Doktorprüfung der Fakultät des Jahres 1967 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ablegte, war das für mich mit sehr viel Genugtuung verbunden. - Und ich dachte noch oft an diese „Änne” !! Ganz anders war das allerdings mit Sport. Da war ich begeistert. Ich war in keiner Disziplin besonders gut. Ich war eher ein „Allround-Sportler”: Leichtathletik, Fußball, Schilaufen. Schilaufen war meine große Leidenschaft. Die Anfänge des Schilaufens erlernte ich auf den von Onkel Albert (Rameil / Hamer, er war Stellmacher) hergestellten Schiern aus Buchenholz mit einfacher Lederriemenbindung. Ich war später der erste im Dorf, der zu Weihnachten Schier bekam (von Sporthaus Schuster, München) aus Hickory verleimtem Holz mit Stahlkanten und Federbindung. Ebenfalls gehörte ich zu den ersten Jungs im Dorf, die Fußballschuhe besaßen. Meine ersten erwarb ich von einem Schreinergesellen (Groth ??), der bei Onkel Albert arbeitete. Diese Fußballschuhe waren so groß, dass ich Turnschuhe darin anziehen musste. Unter Leo Stickler gehörte ich zur Schulauswahlmannschaft. Wir trainierten fleißig, wurden Südwestfalenmeister und scheiterten nur knapp am späteren Westfalenmeister. Wenn ein Meisterschaftsspiel anstand, bekamen die Mannschaftsmitglieder aufgabenfrei. Ob das der Grund dafür war, dass nur Bibers Manni, der bei Tura Altenhundem später Fußballkarriere machte, und ich ohne „Paptus” davonkamen, bleibt unklar.
Sportliche Großereignisse waren die Bannerwettkämpfe (Leichtathletik) der Höheren Schulen Westfalens. Ich habe insgesamt viermal als Mitglied der Schulauswahlmannschaft teilnehmen dürfen.
Untertertianer (15) – als Angeklagter vor dem Amtsrichter in Kirchhundem
Papa besaß ein „Kleinkraftrad”, genannt „Fifi”, Typ Nofa, mit Sachsmotor, 98 Kubik-zentimeter Hubraum. Dieses Motorrad hatte es nicht nur mir angetan. Wenn die Eltern nicht zu Hause waren, dann drehten wir auf einer Wiese hinter Hamer unsere Runden. Mit dabei waren z.B. Schröders Otto, Rauterkus Jupp (+) und andere. Regelmäßig habe ich an diesem Fifi herumgeschraubt und bin oft ohne Auspuff in die Repke gefahren. Das war ein „Sound” ! Ohne Auspuff verfügte ich über mindestens ein halbes PS mehr Leistung !? Mit diesem „Kraftrad” fuhr ich regelmäßig einmal pro Woche (Papa wusste darum!!) durch die Repke nach Gleierbrück, um bei Schneiders Peter, er war der Milchmann, einen Sack Brot abzuliefern, den er mitnahm nach Altenhundem, um ihn bei Cordes (Futtermittel und Baustoffe) abzuliefern. Döbbeners Reinhold wollte mich eines Tages bei einer solchen Brottransporttour nach Gleierbrück begleiten. O.K., diesmal wollten wir aber nicht durch die Repke sondern über die Hauptstraße fahren - also vorn auf dem Tank ein Sack Brot und hinten Döbbeners Reinhold auf dem Gepäckträger. Es gab keinen Sozius und auch keine Extra-Pedale für den Beifahrer. Wir hatten unseren Spaß, aber der währte nicht lange: „Stehenbleiben, stehenbleiben…Polizei!” Wir warfen das „Kleinkraftrad” auf den Bürgersteig, der Sack mit den Broten rollte dahin, und wir wollten weglaufen. Ohne Erfolg, kurzes Verhör, wir mussten in den „Peterwagen” einsteigen, und es ging heim ins Elternhaus. Zwischen zwei Polizisten marschierten Reinhold und ich in die Backstube. Große Aufregung bei Vater Gregor: „Junge, ich habe Dir doch immer gesagt, Du sollst diese Fifi nicht anfassen!” Das war genau die richtige Reaktion. Papa kam mit dem Schrecken davon, und ich musste vor dem Amtsrichter erscheinen. –Ermahnung mit leichtem Grinsen des Amtsrichters!
Erstes Abenteuer England (15, 1954)
Antonius Plitt (+), in Saalhausen, immer nur „Sir” genannt, besaß und bewohnte eine kleine Farm in Wales (England). An „Sir” gibt es viele Erinnerungen. Alle, die ihn gekannt haben, werden mir zustimmen, dass man ihm eigentlich ein umfangreiches Kapitel widmen müsste.
Er war der Sohn von Tante Anna und Onkel Alois (Alois Plitt, Hauptlehrer an der Volksschule Saalhausen). Onkel Alois stammte aus Wulmeringhausen (bei Olsberg) und hatte „eingeheiratet”. „Sir” war aufgewachsen unter sehr konservativen Verhältnissen bei starker erzieherischer Mitwirkung der beiden unverheirateten Tanten Maria und Emma. (Schwestern von Tante Anna). Als unbescholtener junger Mann wurde er zum Militärdienst einberufen und kam schließlich in englische Kriegsgefangenschaft. Als er entlassen wurde und zurück kam in die Heimat, war er kein unbescholtener junger Mann mehr. Er hatte bittere Lebens- und Kriegserfahrungen hinter sich. Mit diesem veränderten Individuum kamen die an seiner Erziehung Beteiligten nicht mehr klar. Es gab Missverständnisse und viel Ärger.
„Sir” packte seine „Siebensachen” und ging zurück nach England, wo er als Kriegsgefangener gute Kontakte gemacht hatte. Es gelang ihm, eine bescheidene Farm zu erwerben. Das war möglich, weil es staatliche Unterstützung gab für die Urbarmachung von Land. Er besaß einen alten Trecker und sonstiges landwirtschaftliches Gerät. „Sirs” Schwester Treschen (Theresia, Lehrerin) bot mir und Heiner Tilmann aus Gleierbrück im Jahre 1954 an, sie auf einer Englandreise zu ihrem Bruder zu begleiten. Das war ein tolles Angebot; ich war begeistert und die Eltern stimmten zu. Auf nach Wales… Die bescheidenen Verhältnisse in „Sirs” Farmhaus gefielen uns sehr. Wir machten uns ein wenig nützlich bei Feldarbeiten. „Sir” war ein guter Schütze und Jäger. Ich erinnere mich daran, wie er uns seine Schießkünste demonstrierte; er warf zwei Geldstücke in die Luft, ergriff sein Zwillingsgewehr, schoss und traf nacheinander die beiden Münzen. Wow!!
Heiner und ich schmiedeten einen ergänzenden Reiseplan: Wir wollten mit dem Fahrrad nach Edinburgh in Schottland fahren. Unsere Zeit war sehr bemessen, weil unsere Rückreise nach Deutschland ja schon gebucht war. „Sir” besorgte uns zwei Fahrräder, die er in seinen kleinen Kombiwagen packte und brachte uns nach Aberystwyth, an der Westküste (Irische See) gelegen. Von hier starteten wir nach Nord-Osten quer durch das gebirgige Wales und fuhren bis Chester, südlich von Liverpool (140 km). Hier übernachteten wir. Um unseren engen Zeitplan einhalten zu können, fassten wir den Entschluss, von Chester über Carlisle bis Edinburgh „durchzufahren” (390 km). Fatal..! Wir starteten früh, „radelten” den ganzen Tag und fuhren hinein in die Nacht. Unsere Fahrräder waren simpel – natürlich ohne Gangschaltung. Es muss zwischen Lancaster und Carlisle gewesen sein, als plötzlich ein Pedal meinen jugendlichen Tretkräften nicht mehr standhielt und abbrach. Die Gegend zwischen Lancaster und Edinburgh (260 km) ist einsam, hügelig und nur mit spärlicher Vegetation versehen. Wir kamen zufällig bald an eine Tankstelle, wo ich mein Problem schilderte. Der Tankwart gab mir einen Lederriemen und empfahl mir, mit einem Bein weiter zu treten. Das erinnerte mich an Beckmanns Hennes in Saalhausen, der beinamputiert war und immer mit seinem Fahrrad unterwegs war – vor allem nach „Schmitten” und „Finken”. Aber er hatte auf der beinamputierten Seite eine Feder, welche das andere Pedal hochzog. Mir wurde bald klar, dass ich so nicht durch das schottische Hügelland bis Edinburgh würde „radeln” können. Wir waren unterwegs auf einer Straße, welche vom englischen Industriegebiet hinaufführt nach Schottland. Auch nachts sind sehr viele große Lastwagen unterwegs. Wir hielten einen dieser Lastwagen an und schilderten unser Problem. Mit samt unseren Fahrrädern durften wir in der Kälte der Nacht auf der offenen Ladefläche Platz nehmen. Nach einigen Kilometern landeten wir in einer großen Lastwagen-Reparaturwerkstatt. Mein Pedal wurde angeschweißt. Wir bedankten uns und verließen die Werkstatt zu einem Probetreten: peng…das Pedal brach wieder ab. Die erneute Verschweißung war derart massiv, dass es nun mit „klack, klack, klack” weiterging. Wir radelten bis zur totalen Erschöpfung. Am Nachmittag des nächsten Tages näherten wir uns Edinburgh. Zuletzt fuhren wir ein paar hundert Meter auf dem Fahrrad, dann schoben wir dieses wieder ein Stück. Wir erreichten unser Ziel, eine Jugendherberge. „Sorry, we are complete!!” Man nannte uns eine andere Jugendherberge am andren Ende der Stadt. Wir erreichten diese mit letzter Kraft. Der Jugendherbergsvater war betrunken, aber er nahm uns auf. Einen Tag nahmen wir uns für die Besichtigung von Edinburgh. – Dann ging es zurück; wir „radelten” wieder in die Nacht hinein. Es regnete „cats and dogs”. Ein kleines Zelt, aufgestellt von Kabelarbeitern über einem Erdloch, bot uns vorübergehend Schutz. Wir legten uns auf die beiden vorhandenen Holzbänke. Wir waren nass, und wir begannen zu frieren.
Es regnete ohne Unterlass, wir mussten weiter. Wir waren inzwischen kurz vor Manchester. Gegen fünf Uhr morgens kamen wir an einer Polizeistation vorbei. Wir klingelten. Es wurde uns Einlass gewährt. Man reichte uns Tee; und am offenen Kamin konnten wir uns aufwärmen. Wir beschlossen, unsere Reise zurück zum „Sir” mit dem Zug fortzusetzen…… alle Fotos zum Artikel: F.J.Heimes.