Saalhauser Bote Nr. 45, 2/2019
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Heinz Rameil Stinans erinnert sich an seine Oma Christine. „Wir hatten Angst, krank zu werden“

von Andrea Schulte

„Die Pferdekutsche kam und holte die Oma, nahm sie mit nach Oedingen, wo sie sich um kranke Kinder kümmerte und so lange blieb, bis sie wieder gesund waren“, erinnert sich Heinz Rameil, Spross ihres Sohnes Theodor und Schwiegertochter Paula. Christine Rameil, Stina Stinans genannt, war augenscheinlich weit über die Grenzen ihres Heimatortes Saalhausen bekannt für ihr Wissen und ihre zupackende Hilfsbereitschaft, wenn es um die Heilung von Kranken ging. Denn das hatte sich Stina zur Aufgabe gemacht in einer Zeit der Entbehrungen, sie hatte wohl ein Händchen und das ausgesprochene Talent dazu. Natürlich wurde ihre kundige Fürsorge auch den eigenen Enkeln zuteil: Im Winter gab es selbstgemachte, wärmende Unterwäsche und Leibchen aus Schafswolle für Josefa, Siegfried, Christel und Heinz: „Ganz schön kratzig. Und wenn wir doch Fieber bekamen, packte sie uns augenblicklich von Kopf bis Fuß in Wickel. Wir mussten uns ausziehen, dann wurden wir in nasse, kalte Tücher eingedreht, darüber schlang sie eine warme Decke. So lagen wir und wenn alles durchgewärmt war, wurden die Tücher wieder gewechselt. Das war was, wir hatten fast Angst davor, krank zu werden“, erinnert Heinz sich heute lächelnd.

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1. Stina am Fenster des Stinans-Hauses auf der Jenseite
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2. Bild und Anleitung zum Wickel aus dem Kneipp-Buch
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3. Die junge Stina
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4. Notiz zum Tod des Sohnes Karl aus dem Notizbuch

Er weiß noch, dass er bis Berghof hinter Kirchhundem radelte, um dort Arnika zu pflücken. „Damit hat sie viel gemacht, aus der Not heraus – es gab ja hier keine Ärzte, die man sich eh nicht hätte leisten können – hat sie viel ausprobiert“. In den Wald ging es dann, um ein bestimmtes Nadelbaum-Harz zu sammeln. Dieses Tränenharz wurde bei Magenbeschwerden gekaut und war immer vorrätig. Eines Tages ging gegenüber bei Herbert Hennes eine Bombe hoch, die er gerade in der Scheune zu entschärfen versuchte. Sein Gesicht bekam einiges ab, aber Stina war zur Stelle: „Ich weiß nicht, ob es Sahne, saure Sahne oder Milch war, jedenfalls hat sie sein Gesicht sofort damit umhüllt und es sind keine Narben geblieben.“ Und so war das Stinans Haus auf der Jenseite (heute Fuhlen) Anlaufstelle bei großen und kleinen Wehwehchen und die Leute kamen von weither, um Stina zur Hilfe zu holen.

Milchprodukte, Harze, Arnika und Wickel, Stina heilte mit gesundem Menschenverstand und wachsender Erfahrung. Zudem gewann sie ihr Wissen aus Büchern von Sebastian Kneipp, dem Naturheilkundler und Hydrotherapeuten, dessen Heilverfahren noch heute große Bedeutung in der Medizin haben. Heinz besitzt noch zwei Bücher des Pfarrers, außerdem aus frühen Zeitschriften ausgerissene Seiten mit Gesundheitsratschlägen für den Hausgebrauch, die mit einfachen Mitteln umzusetzen sind. Die alten Schriften sehen allesamt mitgenommen aus, sie waren augenscheinlich wichtige Nachschlagewerke, die Stina immer wieder zu Rate zog. So kann man sicher sagen, dass sie nicht nur eine Kräuterkundige war, sondern sich vor allem die Heilung von Krankheiten durch allerart Anwendung von Wasser zu Nutze gemacht hatte. Aus heutiger Sicht durchaus modern anmutende und sehr kluge Ansätze, die, gepaart mit ihrer ausgesprochenen Beharrlichkeit und gewiss auch einer Prise Gottvertrauen, oft zum Erfolg geführt haben. Die Kneippschen Tret- und Armbecken, die heute im Kurpark zu Erfrischung und Erholung der Saalhauser und den Gästen zur Verfügung stehen, hätten Stina sicher sehr gefallen.

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5. Handgeschriebene Behandlungsnotiz

Viele Saalhauser haben Stina ihre Gesundheit zu verdanken, einige sicher sogar mehr. Als sich Ernst Zimmermann (Willers) als wenige Monate altes Baby schlimm verbrannte, half sie: „Mein großer Bruder Karl sollte die Kartoffeln vom Feuer holen und abgießen, als meine Mutter mit mir beschäftigt war. Da goss Karl versehentlich das heiße Wasser über meinen Kopf. Stina wurde gerufen und sie kam jede Stunde vorbei und strich Eigelb mit einer Hühnerfeder auf meinen Kopf, bis alles verheilt war. Mit der Feder ging das ja leicht, ohne Druck. Was sie noch ins Ei getan hat, weiß ich nicht, Öl vielleicht? Jedenfalls ist nichts zurück geblieben. Wenn sie nicht gewesen wäre, wären auf meinem Kopf sicher keine Haare mehr gewachsen“, erinnert er sich. Heinz‘ Schwester Christel (Kristes) weiß noch, dass sie diese besonders weichen Federn als Kind gesammelt hat.

Ihrem eigenen Sohn Karl konnte Stina jedoch nicht helfen: Er starb mit nur 16 Jahren an den Folgen seiner Diabetes. Wirkungsvolle Behandlungen gab es damals zwar schon, doch das Insulin war viel zu teuer für die Familie. „Sie konnte ihm einfach nicht helfen“, erinnert sich ihr Enkel Heinz beklommen. So erfasste Stina mit zittriger Hand das Todesdatum ihres Karls in dem Büchlein, in dem sie den Stammbaum ihrer Familie, die Geburtsdaten ihrer Kinder und Enkel festhielt.

Die Familie hält das Andenken der am 20. Januar 1961 verstorbenen Stina in Ehren. Und ihr Enkel hat auch heute immer ein Klümpchen Tränenharz im Haus, falls der Magen mal drückt.

Der Saalhauser Bote dankt Heinz Rameil und Christel Kristes herzlich für den Blick in die privaten Aufzeichnungen ihrer Großmutter und der Erlaubnis, sie in Kopie ins Archiv aufzunehmen. Darunter ist auch die abgedruckte Behandlungsanleitung. Wer kann Stinas Notiz entziffern?


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