Ein Rückblick auf 1995
Hilfstransport mit Hindernissen in die Ukraine
von Werner Riedel
Der erste Kontakt Saalhauser Bürger zur Ukraine kam über die Tschernobyl-Hilfe Dorlar zustande. Bereits im
Jahr 1992 kam eine erste Gruppe Kinder mit Betreuerinnen nach Saalhausen, untergebracht in Privatquartieren.
Im Jahr 1993 erfolgte der erste Besuch von Mitgliedern der privaten Tanzschule „Ukrainische Souvenirs“. Bei
mehreren Auftritten in Saalhausen und Umgebung wurde Geld eingenommen, das in den Bau des Kur- und Bür-
gerhauses floss.
Umgekehrt fuhren mehrere LKW im Rahmen größerer Konvois nach Kiew. Auch Hermann (Lutzen) Rameil und
ich fuhren zwei Tage vor Allerheiligen 1995 mit einem von der Firma TRACTO TECHNIK zur Verfügung gestellten
7,5-Tonner auf den Weg in Richtung Osten, allerdings nicht im Rahmen eines Konvois, sondern allein. Vorab
waren sämtliche Formalitäten beim damaligen Zoll im Lennestädter Rathaus erfüllt worden. Detailliert waren die
Frachtpapiere über Dutzende Päckchen von Sauerländer Familien an Familien in Kiew; auch fünf große Müllsä-
cke voller Medikamente, die eine Kiewer Ärztin erbeten hatte, wurden geladen.
Auch der komplette Restbestand eines geschlossenen Schuhhauses in Saalhausen, Badewannenlifter, Unmen-
gen an gebrauchter Kleidung gingen auf die Reise. Vom Zoll erhielt ich den dringenden Ratschlag, am Fahrzeug
das Zeichen einer internationalen Hilfsorganisation zu befestigen, weil ich ansonsten mit tagelangem Warten an
den Grenzen rechnen müsse.
Selbstgebastelte Hilftsgüter-Schilder
Der anschließende Besuch im Hagebaumarkt brachte zwei
45 x 45 cm große Pressspanplatten, sowie zwei Selbst-
klebefolien in weiß und rot. Ein Hinweisschild auf die Hilfs-
lieferung Marke Eigenbau. Beide Schilder wurden vorne
und hinten am LKW befestigt, der Laderaum fachmännisch
verplombt. Gegen 16 Uhr ging es dann los über die A2 in
Richtung Berlin und dann Frankfurt an der Oder. Problem-
los ließen uns die deutschen Zöllner passieren, die Polen
ab der Grenze waren dagegen auf Krawall gebürstet. Of-
fensichtlich, weil unsere Hilfsgüter in die Ukraine gingen
und nicht in Polen blieben. Neben verschie-
denen Gebühren sollten wir dann auch noch eine Straßen- Dankenswerterweise hatte TRACTO TECHNIK den LKW für
benutzungsgebühr bezahlen. Kleine Quittungsblöckchen die Kiewreise zur Verfügung gestellt
über 4 x 10 Zloty, 1 x 5 Zloty und 2 x 1 Zloty hatte ich mit jeweils neun (9) Durchschriften auszufüllen und jeweils
zu unterschreiben.
In einer benachbarten Baracke zahlte ich die 47 Zloty, die Quittungsblöckchen wurden von dem freundlichen
polnischen Grenzbeamten entgegengenommen und grinsend in den Papierkorb geworfen. Doch nicht genug, der
nächste Grenzbeamte verlangte nun einen Laufzettel für sämtliche Zollstationen, wie alle Berufs-LKW-Fahrer ihn
bei sich hätten.
Zudem hätte ich mich ans Ende der LKW-Schlange im ca. 10 Kilometer zurückliegenden Autohof anzustellen.
Das hätte eine Wartezeit von ca. zwei Tagen bedeutet. Energisch schüttelte ich den Kopf, wies auf meinen Status
als Hilfstransport hin und gab unmissverständlich zu verstehen: das mache ich nicht, ich fahre nicht zurück. Der
Zöllner grinste, nahm alle meine Zollpapiere, warf sie mir vor die Füße und meinte lässig: „Dann fahr doch weiter.“
Innerhalb weniger Sekunden hatte ich die Papiere aufgehoben, saß hinter dem Lenkrad und gab Gas.
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Auf nagelneuer Straße ging es bei leichten Minustemperaturen in Richtung Warschau. Inmitten von schier end-
losen Wäldern standen leicht bekleidete junge Mädchen, ihre Zuhälter parkten in warmen Autos in Abzweigen
viele Kilometer entfernt.
Durch Warschau und an der Lennestädter Partnerstadt Otwock vorbei, steuerten wir einen kleinen Grenzüber-
gang am Flüsschen Bug an. Ein ukrainischer Zollposten nahm uns in Empfang und wies den LKW in eine Park-
lücke ein. Hermann nahm unsere Papiere und ich ging in die Zollstation, um mir die Beine zu vertreten. Ich war
nur wenige Meter vom LKW entfernt, als derselbe Zöllner vor mir auftauchte und mich mit einer Maschinenpistole
im Anschlag anherrschte: „Passa porte“, wohlwissend, dass mein Mitreisender Hermann mit all unseren Papieren
in der Zollstation war. Als ich mich entfernen wollte, hob der nur 1,60 m große Mann die MP noch höher und wurde
noch lauter: „Stoi!“ (stehen bleiben).
Maschinenpistole im Anschlag
Geschlagene 60 Minuten hielt er mich so an derselben Stelle fest. Sehr zum Vergnügen einiger Dutzend Ukrainer,
deren Bus auf der Suche nach Schmuggelware auseinandergenommen wurde. Meine Rettung war schließlich ein
italienischer Fernfahrer, der meine missliche Lage sah und der schnurgerade auf den ukrainischen Zöllner los-
ging. Ohne eine Spur von Respekt oder gar Angst brüllte er diesen an, bezeichnete ihn als Idioten, er solle mich
gefälligst in Ruhe lassen. Wortlos drehte sich der Pimpf um und stapfte davon. Mit Hermann wieder an Bord ging
es in Richtung Kiew. Alle paar Kilometer ein Kontrollposten, aber nur die ersten schauten überhaupt in unsere
Papiere. Die Fahrbahn bestand aus den typischen Beton-Segmenten, wie sie ja bestens aus dem ehemaligen
Berliner Autobahnring bekannt sind.
In Kiew wurden wir von einem Vater der Tanzgruppe abgeholt und zu einem bewachten Garagenpark geleitet. Als
wir dann mit ihm in seinem Auto weiterfuhren, legte er einen interessanten Fahrstil an den Tag: er beschleunigte
bis auf 60 km/h und kuppelte dann aus. Auf meine Frage antwortete er: „Economia“. Erst später merkte ich, dass
auch sein Reservetank praktisch leer war. An einer breiten Prachtstraße befanden sich im Abstand von einigen
Metern wunderschöne Laternen, aber nur jede Achte bis Zehnte brannte. Kommentar unseres Fahrers: „Econo-
mia“. In dem Wohnviertel mit seinen Waschbeton-Häuserblocks trafen wir die Gastgeberfamilie.
Krimsekt und Wodka zum Empfang in Kiew
Die Familien der Mitglieder der uns bekannten Tanzgruppe hatten zusammengelegt und zu einem feuchtfröhli-
chen Essen mit landestypischen Speisen und natürlich rotem Krimsekt und selbstgebranntem Moonshine-Wodka
eingeladen. Den gab es direkt aus Wassergläsern. Unsere flehenden Bitten, im Verlauf des Abends von weiterem
Einschenken von Woldka abzusehen, wurden stillschwei-
gend ignoriert. Mit den Worten: „Tschuk Tschuk“ (nur ein
klein bisschen) wurden die Gläser immer wieder gefüllt.
Wir Sauerländer sind bekanntermaßen Biertrinker, Wodka
(in kleinen oder großen Mengen) sind wir nicht wirklich ge-
wohnt.
Am nächsten Tag sollte der LKW entladen werden, doch
da machte uns der lokale Zoll einen dicken Strich durch
die Rechnung. Offenbar, weil wir kein Schmiergeld gezahlt
hatten. Der Zoll stieß sich an dem Posten „Geschenkpa-
kete“ in den Frachtpapieren. Er wollte über den genauen
Inhalt Bescheid wissen. Ich bot an, sämtliche Päckchen
Die Ukrainer um Maria hatten zusammengelegt, um Werner und
Hermann ein typisch ukrainisches Abendessen zu bieten
zu öffnen und eine lange Liste zu fertigen. Der Zoll blieb
stur: „Erst Liste, dann öffnen!“. Der 16-Jährige Sohn unse-
rer Gastgeber, Jaroslav, übersetzte ins Englische, wodurch wir uns verständigen konnten. Am nächsten Abend
tauchten zwei Herren aus dem Innenministerium auf, die mich misstrauisch befragten. Unter den Hilfsgütern dürf-
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