Saalhauser Bote Nr. 17, 2/2005


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Der Heiland ist geboren ... Kindheitserinnerungen und mehr ... !

- Von Friedrich Bischoff -


Der Heiland ist geboren,

freu dich, o Christenheit!

Sonst wär`n wir gar

Verloren

In aller Ewigkeit.

Freut euch von Herzen,

ihr Christen all, ...

Aus Oberösterreich


Meine Frau machte mich darauf aufmerksam. Es war der 1. September 2005. Alljährlich um diese Zeit erlauben wir uns das zweifelhafte Vergnügen, darauf zu achten, wann wir denn in diesem Jahr in den Auslagen der Geschäfte den ersten "Weihnachtsboten" entdecken würden. Und richtig, da lagen die ersten weihnachtlichen Backerzeugnisse in Form von Spekulatius, Zimtsternen, Printen, Stollen usw. Im vergangenen Jahr entdeckte ich am 22. September in einem Schaufenster den ersten vollständig geschmückten Weihnachtsbaum. Das Ganze ein Kunstprodukt, denn wie hätte er sonst die Zeit bis Weihnachten überstehen sollen. Schöne neue Welt. Darin waren wir uns auch jetzt wieder einig.


Zu welch einer „Schönheit“ die neue Welt sich entwickeln kann, vermag man auch an folgendem Beispiel zu erkennen. Eine feste Einrichtung auf dem Bochumer Weihnachtsmarkt ist der Adveniat - Stand. Dieser Stand ist immer sehr gefragt. Der Erlös geht an die Aktion Adveniat der katholischen Kirche. Selbst der Weihbischof von Essen lässt es sich nicht nehmen, an einem der Adventsonntage Schmalzbrote und Kakao zu verkaufen. Im vergangenen Jahr nun kam die Bochum Marketing als Ausrichterin des Weihnachtsmarktes zu der Erkenntnis, dass dieser Stand nicht mehr in das Konzept eines modernen Weihnachtsmarktes passe. Erst ein Machtwort des Oberbürgermeisters – so hörte man – hat letztlich die Situation geklärt.


Diese beiden Begebenheiten machen eines sehr deutlich: Zwischen der Zeit meiner Kindheitserinnerungen und der heutigen Zeit liegen Welten. Deshalb erscheint es mir umso wichtiger, zum Vergleich die Welt von damals so festzuhalten, wie ich sie als kleiner Junge in Saalhausen erlebte. Eines jedoch sollte deutlich sein: Saalhausen ist überall, damals wie heute.


Was war damals anders? Wir haben uns an den Erfahrungen der Eltern orientiert, sie als Richtschnur genommen und mit Hilfe eigener Erfahrungen und wachsender Eigenverantwortung weiterentwickelt. Dieser entscheidend positive Elterneinfluss wurde im Laufe der Jahre verdrängt von der alles beherrschenden sogenannten öffentlichen Meinung. Der legendäre Dorflehrer oder der Pastor als Garant für echte Wertevermittlung, wie ich sie z.B. noch in Saalhausen stellvertretend für viele andere in Fräulein Döbbener oder Pfarrer Piel erleben durfte, mutierten im Laufe der Zeit zu Randfiguren und werden heute allenfalls noch mitleidig belächelt. An ihrer Stelle vermitteln Medien und Meinungsmacher jeglicher Couleur ihre neuen Heilslehren mit dem Ergebnis, dass die Eltern von heute zum Teil ebenso orientierungslos umherirren wie ihre eigenen Kinder, denen sie eigentlich Halt und Vorbild sein sollten.

Es mag paradox klingen, aber den sicheren Halt gab unseren Eltern und damit auch uns damals eine Welt, die „in Scherben“ lag. Diese Welt hat unsere Eltern gezwungen, sich mit einer oft grausamen Lebenswirklichkeit auseinander zu setzen, böse Erlebnisse und Verluste zu verkraften und im Kampf ums Überleben nach vorne zu schauen. Wir Kinder bekamen dieses alles in vollem Umfang mit und mit der Fähigkeit, die den Kindern nun mal zu eigen ist, auch den widerwärtigsten Lebensumständen noch etwas Gutes abzugewinnen, erlebten und prägten wir diese Zeit auf unsere Weise. Dabei wurden wir schon sehr früh in die Pflicht genommen, wodurch unser Blick für das Wesentliche von selbst geschärft wurde.


Die Advents- und Weihnachtszeit spielte für uns Kinder bei der Wahrnehmung dieser Pflichten natürlich eine besondere Rolle. Wussten wir denn, ob es nicht doch ein Schwarzbuch gab, in das alle Versäumnisse und Vergehen eingetragen wurden, die uns dann St. Nikolaus am „Tage des Gerichts“, am Nikolausabend, in gütiger Strenge vorhielt? Ob in diesem Jahr Knecht Ruprecht wieder in Aktion treten und seine Rute schwingen würde? Daraus geht hervor, dass wir unsere Pflichten ernst nehmen mussten und sich hierdurch eine Einstellung entwickelte, die für uns prägend wurde. Das heißt aber nicht, dass jede Aufgabe immer und in jedem Falle auch freudig begrüßt und mit Feuereifer erledigt wurde.


Eine dieser Pflichten bestand in den ersten Jahren darin, für das tägliche Brennholz zu sorgen. Dazu gingen wir in den Wald und schleppten dort alles Bruch- und Abfallholz zusammen, das uns geeignet schien, denn es musste ja von der Helle oder sonst woher nach Hause geschleppt werden. Alles Holz, das frei umher lag, konnte ohne Erlaubnis gesammelt werden. Das war jedes Mal eine “Mordsschlepperei“ und im wahrsten Sinne des Wortes Knochenarbeit. Zu Hause musste das Holz dann auf passende Länge geschnitten und klein gehackt werden, damit es in den Ofen passte. Für den Winter aber wurde dann ein ganzes Fuhrwerk geschlagener Stämme vor die Tür gefahren. Um das Holz mit der Hand zu sägen und zu hacken (Kreissägen kamen erst später), dazu reichten unsere Kräfte bei weitem nicht aus. Hier nun kam eine Person ins Spiel, die schon damals meine Bewunderung und Achtung erweckte: Ecken Hugo. Er war stark gehbehindert und konnte sich nur mühsam mit Hilfe eines Stockes fortbewegen. So sehe ich ihn noch heute zu uns kommen: Mit der rechten Hand stützte er sich auf seinen Stock, über der linken Schulter trug er eine Bogensäge und in der linken Hand eine Axt mit einer messerscharfen Schneide. So kam er dann und machte sich ans Werk. Zuerst wurden die Stämme klein geschnitten. Beim Auflegen der Stämme auf den Sägebock und beim Nachschieben derselben halfen wir ihm und wir wunderten uns immer wieder, wie schnell er mit einem meterlangen Stamm fertig wurde. Am Abend hatte er die ganze Fuhre geschafft. Die einzelnen Holzstücke mussten wir fein säuberlich aufbansen*.

Am nächsten Tag kam die Axt zu ihrem Recht. Seinen Hauklotz stellte Hugo in Reichweite der Holzbanse. Und dann ging es los. Mit der linken Hand nahm er einen Holzklotz nach dem anderen vom Stapel und stellte ihn auf den Hauklotz. Mit rechts führte er dann die Axt so geschickt und treffsicher, dass er die linke Hand kaum vom Holzklotz wegnahm und die beiden getrennten Hälften rechts und links der Axt stehen blieben. Wenn es ihm warm wurde, rollte er die Ärmel auf und wir konnten seine muskulösen Arme sehen. Es dauerte nicht lange bis der Holzwall, der sich um den Hauklotz bildete, bald höher war, als der Hauklotz selber. Für uns hieß es erneut bansen.


Ecken Hugo. Eine Person aus meiner Kindheit, eine behinderte zudem. Ich glaube, er wurde auch wegen seiner Behinderung nicht besonders geachtet. Ich jedenfalls bewunderte ihn. Nahm er doch trotz dieser Behinderung sein Schicksal in die eigenen Hände und half zugleich anderen Menschen – ein für mich prägendes Vorbild.


So sorgte er auf seine Art auch mit für die unglaublich stimmungsvolle Atmosphäre, die sich in den späten Herbst- und beginnenden Winterabenden im Dorf entfaltete. Das Winterholz war gestapelt und aus allen Schornsteinen quoll der weiße Rauch wie Zuckerwatte auf einem Kinderbild. Der würzige Holzgeruch verteilte sich über das ganze Dorf und trug so weiter zu dieser Stimmung bei.

Wenn sich nun noch der frühe Abendnebel über das Dorf legte, dann glaubte man sich in einer geheimnisvollen Märchenkulisse zu bewegen inmitten von Häusern, deren Fenster ihr Licht auf die Straße und die Wege warfen und diese notdürftig beleuchteten. Mussten wir dann trotz ausgefeilter Verzögerungstaktik schließlich doch ins Haus, so führte mich mein erster Weg mit einem Buch in der Hand auf das Küchensofa gegenüber dem Küchenherd. Nur hier gab es die nötige, mollige Wärme, denn draußen setzte zunehmend Frost ein und ein weiteres Zimmer zu beheizen hätte doppelten Holzverbrauch bedeutet. Hier auf dem Sofa ließ ich meiner Phantasie in Märchen und Geschichten weiterhin freien Lauf. Dass die Sagen und Märchen, die uns Josefa Berens erzählte und zu denen sie uns zu dieser Jahreszeit in regelmäßigen Abständen zu sich ins Haus einlud, von uns Kindern mit offenem Herzen nahezu aufgesogen wurden, erhöhte noch den Erlebnisreichtum dieser Zeit.


Spätestens jetzt begannen auch die ersten Weihnachtsvorbereitungen. Einen Höhepunkt stellten für mich immer die Proben für die Christmette dar. Lehrer Krüsemann versammelte an einem oder auch mehreren Nachmittagen der Woche Freiwillige um sich, um mit ihnen zu singen. Neben anderen Liedern hatte es mir das Lied „Der Heiland ist geboren“ besonders angetan. Grund hierfür war der dritte Takt, in dem die Stimme in einem Oktavsprung nach oben geführt wird. Dieser Sprung wiederholt sich dann noch einmal zum Schluss der Strophe. Nach meiner heutigen Beurteilung muss ich eine helle Sopranstimme besessen haben, denn ich erinnere mich noch bestens, wie ich diese Stellen jedes Mal mit voller Inbrunst hinaus jubilierte. Das änderte aber nichts daran, dass mir beim ersten Mal in der Christmette gleich in der ersten Strophe vor lauter Nervosität die Stimme versagte. Zusätzlich erschrocken musste unser kleiner Chor auch in den folgenden Strophen auf mich verzichten.


Nicht verzichten aber mussten wir Kinder auf die echte und tief empfundene Freude, die in diesem Lied zum Ausdruck kam. Diese Freude und die Erwartung des Ereignisses selbst durchzog die gesamte Advents- und Weihnachtszeit. Sie begleitete uns bei der Erfüllung unserer Pflichten, beim Spielen und in der Schule. Sie wurde größer, je mehr wir uns dem Weihnachtsfest näherten. Wir spürten, dass jedes Jahr von neuem etwas Großes stattfand: Der Heiland wird geboren.


War das die heile Welt? Wir lebten in einer Welt von Scherben und dennoch war sie für uns eine heile Welt. Nur Kinder sind in der Lage, auch auf den Trümmern ihres Elternhauses spielend glücklich zu sein. Eigentlich besaßen wir nichts und hatten dennoch alles. Wir besaßen noch die Offenheit und Empfindsamkeit für Werte, die uns innerlich bereicherten und reich machten. Die Wünsche nach materiellen Dingen wie Spielsachen usw. waren so zahlreich, dass wir ohnehin wussten, dass sie nicht zu erfüllen waren. Umso größer war dann die Freude, wenn doch ein Wunsch in Erfüllung ging.


Der eigentliche Reichtum unserer Zeit bestand letztlich darin, dass man uns trotz des täglichen Existenzkampfes in Ruhe aufwachsen ließ. Man machte uns Kinder nicht zum Zielobjekt geschulter Marketing-Strategen und Werbepsychologen, die auch noch die letzten Wünsche aus den Kinderherzen ausgraben, nachdem sie diese zuvor in sie hinein gepflanzt haben. Dass dabei ihre kleinen, sich entfaltenden Seelen gleich zu Beginn erstickt werden können, ist für sie von nebensächlicher Bedeutung.


Kinder werden jeweils in die Welt hinein geboren, die sich ihnen am Tage ihrer Geburt bietet. In einem jeden Kind ruht die Fähigkeit, diese Welt einmal mit zu formen zu ihrem Heil oder Unheil. In einem jeden Kind also liegt auch das Heil. Auch Christus wurde als ein Kind in seine Welt hinein geboren und er gab ihr einen neuen Sinn. Er wies den Menschen den Weg zum Heil und wir Menschen sind immer wieder aufgefordert, diesen Weg zu suchen und zu gehen.

Wie heißt es da so einfach im Lied? “ Der Heiland ist geboren, freu dich ... !


Dem Saalhauser Boten und all seinen Lesern wünsche ich besinnliche Tage und die Freude der Weihnachtsbotschaft.


*Lt.. Dr. Fechner, Professor für Germanistik an der Ruhr Universität Bochum, ist das im Plattdeutschen noch heute gebräuchliche Verb „bansen“ ein original germanischer Begriff mit der gleichen Bedeutung wie heute: stapeln, aufstapeln.



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